Romanumfänge:Durch dick und dünn

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Die Mainzer Akademie rief Autoren zu einer Diskussion über "Die Gewichtigkeit dicker Romane" zusammen. Aber wie legt man Bücher auf eine ästhetische Waage, um Gewicht und Gewichtigkeit voneinander zu trennen?

Von Volker Breidecker

Der große Dichter Alfred Döblin war 1945 in der Uniform eines französischen Kulturoffiziers aus dem Exil nach Deutschland zurückgekehrt. Als er 1953 enttäuscht die junge Bundesrepublik verließ und zum zweiten Mal nach Frankreich ging, gehörten zu seiner Hinterlassenschaft ein 600 Seiten dicker Roman, den kein Verlag drucken wollte, und eine eher schmalbrüstige Klasse für Poetik an der von ihm mitbegründeten Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Der 600-Seiten-Roman hieß "Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende" und enthielt in Form eines epischen Reigens den Blick seines Autors in die Abgründe seines Jahrhunderts. Erscheinen konnte das Buch nur mit der Verspätung eines Jahrzehnts und obendrein verstümmelt über den Umweg der DDR. Seit dem vergangenen Jahr ist die wiederentdeckte Originalfassung in Döblins Hausverlag S. Fischer greifbar.

Nun rief Ursula Krechel, Leiterin der vor Jahren aus ihrem Dornröschenschlaf wiedererwachten Literaturklasse der Mainzer Akademie eine Diskussionsrunde "Über die Gewichtigkeit dicker Romane" ein. Krechel selbst hat "Landgericht" (2012) und "Shanghai fern von wo" (2008) verfasst, zwei 500 Seiten starke, preisgekrönte Romane über den Jahrhundertstoff des deutsch-jüdischen Exil. Ihr zur Seite saßen zwei Autoren, deren Romane schon häufiger auch die 700-Seitenzone überschritten hatten: der Büchnerpreisträger Reinhard Jirgl, der seine zeitgeschichtlichen Stoffe an Sprachexperimente bindet, und Ernst-Wilhelm Händler, im Erstberuf Unternehmer, der mit der Form des Gesellschaftsromans experimentiert. Hinzu kam der Germanist Norbert Miller, der als Herausgeber von Klassikern wie Jean Paul, Henry Fielding und Daniel Defoe einen literarhistorischen Blick auf das Phänomen dickleibiger Romane beisteuerte.

Schon immer wohnte der Romanform der Drang nach grenzenloser Ausdehnung inne

Reinhard Jirgl zieht es unter weiträumiger Umgehung des literaturbetrieblichen Alltags, in dem mit den nach Überwindung der Tausend-Seiten-Marke strebenden SUV-Romanen auch die Klagen darüber zunehmen, vor, statt von "dicken" Romanen von der epischen Form und von der prinzipiellen Offenheit und Unabschließbarkeit des modernen Romans zu sprechen. Vorausgesetzt, dass die "Physis des Texts" nicht durch überflüssige Längen und Redundanzen verfettet wird, sei das Volumen eines Romans "im günstigeren Fall" allein den Formeigenschaften und sprachlichen Eigenbewegungen geschuldet.

Aus historischer Perspektive pflichtete Miller dem bei, wohne doch der Romanform, in dem Maße, wie sie die erzählte Welt an die Stelle der wirklichen Welt setze, schon immer der Drang nach grenzenloser Ausdehnung inne. Bei Jirgl erwächst daraus ein sprachlicher, bei Händler ein konstruktiver Anspruch. Während Händler sich auf einen kalkulierten "Masterplan" beruft, der all seinen Romanen zugrunde liege, wenn auch mit jedes Mal offenem Ausgang, so steht solchen geradezu planwirtschaftlichen Direktiven bei Jirgl indessen eine vergleichsweise liberalistische Bewirtschaftung gegenüber, die den Roman dem Eigenwillen von Form und Sprache überlässt.

Verschmitzt wollte Krechel von beiden Autoren wissen, wie sie die zeitverzehrende Arbeit an einem Roman in ihre Lebensplanung einbauten. Händler zeigt sich auch da als ein betriebswirtschaftlicher Dirigent, der seine Texte diktiert, bis er an die vom Computer erfasste dritte Version endlich selbst Hand anlegt. Jirgl überlässt sich hingegen dem Fluss der Sprache, löst rhythmische Stockungen auf Spaziergängen auf, bis die Texte allmählich zusammenwachsen - "ich habe ja schließlich Zeit." Der Umfang eines Romans, der bei Händler dem sich anfangs mündlich ausdehnenden Sprachfluss unterliegt, ist bei Jirgl den formalen Fragen so weit untergeordnet, dass er keine tragende Rolle spielt. Der aktuelle Trend zur Maximalisierung beeindruckt ihn so wenig wie die einst von der Popliteratur propagierte Minimalisierung der Umfänge. Händler deutet den Aufschwung dicker Bücher als Ausdruck eines fetischisierten Bedürfnisses nach großen Zusammenhängen, freilich auch als Folge technisch erweiterter Speichermöglichkeiten. Infolge des Schwindens der Lektorate und der Ansprüche an das "fehlerfreie Buch" schwänden auch die Kontrollmöglichkeiten.

Bleibt die Notwendigkeit der eingreifenden Hand, damit nicht passiert, was Jirgl um ein Haar einmal unterlaufen wäre, dass nämlich ein Buch sich gleichsam selber schreibt: "Wenn ich da nicht eingegriffen hätte, würde ich jetzt noch schreiben." Und wir müssten dann endlos weiterlesen, was wir ja ohnehin schon tun, während wir von der Erfüllung jenes Mottos träumen, das sich der kleine Berliner Berenberg Verlag für seine handwerklich wohlgestalten Bücher von dem amerikanischen Historiker Robert Darnton entliehen hat: "In jedem dicken Buch steckt ein dünnes, das schreit: Ich will raus!" Freilich folgt dem sogleich die Devise des britischen Krimiautors Ian Fleming auf dem Fuße: "Sag niemals nie."

© SZ vom 25.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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