Roman von Kai Wieland:Zwei Seelen und viele Bilder vom Krieg

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Kai Wieland: Zeit der Wildschweine. Roman. Klett-Cotta, Stuttgart 2020. 271 Seiten, 20 Euro. (Foto: Klett-Cotta)

Wenn die Suche nach der verfallenden Zivilisation wieder nur mit Latte macchiato endet: Kai Wielands zweiter Roman "Zeit der Wildschweine" über Abenteuerlust und Heimatgefühle.

Von Kristina Maidt-Zinke

Der zweite Roman ist bekanntlich der schwierigste. Zumal dann, wenn es für den ersten viel Applaus gegeben hat. So war es bei Kai Wieland, Jahrgang 1989, der in der schwäbischen Provinz aufwuchs, Medienkaufmann und Buchwissenschaftler wurde und vor zwei Jahren unter dem Titel "Amerika" das boomende Dorfroman-Genre um eine sehr originelle Variante bereicherte. Die sollte man zuerst lesen, um die Fähigkeiten und Stärken des Autors einschätzen zu können. Denn sein neuer Roman "Zeit der Wildschweine" trägt bereits Spuren eines Erfolgsdrucks, die den Zugang zu Wielands literarischem Potenzial erschweren könnten.

Die Heimatprovinz ist das Thema geblieben, zu dem er sich bekennt, und das ihn fasziniert, aber in Erwartung eines größeren Publikums musste nun noch einiges dazukommen: ein Stück Welt, eine Brise Zeitgeist und Figuren, die zur Identifikation taugen, zumal für jüngere und junge Leser. Wieland, der im Brotberuf in einem Verlagsbüro vor allem Reiseführerreihen betreut, fand eine naheliegende Lösung: Er lässt seinen Helden, den Endzwanziger und Reisejournalisten Leon, in zwei Strängen erzählen. Der eine handelt davon, dass er mit seinem verwitweten Vater auf dessen Wunsch die Wohnung tauscht, also in sein dörfliches Elternhaus zurückzieht. Der andere führt ihn mit dem Fotografen Janko, den er im Kickboxstudio kennengelernt hat, im Auftrag eines Reisebuchverlags in die Normandie, wo sogenannte Lost Places zu erkunden sind.

Aufgegebene Orte, verlassene Stätten oder abandoned premises, vom illegalen Autofriedhof über den verfallenden Kinosaal und die Industrieruine bis zur ausgestorbenen Siedlung, waren einst das Revier tollkühner Urban Explorer. Mittlerweile sind diese Relikte des Vergangenen so gut wie restlos von Bloggern und Instagrammern aufgespürt und massenkompatibel geworden. Das weiß Leon, und das weiß auch sein Auftraggeber, der auch noch auf den Zug aufspringen will. Doch immerhin ist es nicht zum hundertsten Mal die Côte d'Azur, und ein Projektabenteuer mit dem widerborstigen und geheimnisumwitterten Janko, der cineastische Vorlieben mit dem Erzähler teilt, ansonsten jedoch sein schieres Gegenbild ist, bietet sich als Kompensation für die bevorstehende Rückkehr in die schwäbische Dorf- und Familiensphäre an.

Die Auftragsabenteurer landen am Set von Christopher Nolans "Dunkirk" und werden Statisten

Die bis ins Detail durchdachte Konstruktion von Gegensätzen und Symmetrien durchzieht den gesamten Roman. Spiegelungen sind das auffälligste Motiv, und so weckt die Szene, in der Leon und Janko einander im Waschraumspiegel der Kampfsportschule zum ersten Mal erblicken, nicht nur filmische Assoziationen, sondern weist auch auf das ästhetische Prinzip voraus, nach dem der Autor planvoll und gewissenhaft verfährt.

Leon ist auf der Suche nach seiner Identität, und natürlich wohnen in seiner Brust zwei Seelen: Die eine sehnt sich in die Fremde, ins Offene, die andere strebt zurück in die Geborgenheit des Herkunftsmilieus, die wiederum mindestens zur Hälfte traumatisch verdunkelt ist, vorwiegend durch den rätselhaften Freitod der Mutter. Leons Schwester Jana - noch eine Polarität - hat sich für ein geregeltes bürgerliches Dasein entschieden, während ihr Bruder dem Traum vom unbehausten, ungezähmten Leben nachhängt, den er seit Kindheitstagen mit den Wildschweinrudeln in den Wäldern und Maisfeldern jenseits des Dorfrandes assoziiert: Man weiß um ihre Gegenwart, bekommt sie aber nie zu Gesicht.

Die mediale Rivalität von Wort und Bild, die Leon und Janko in ihren Tätigkeiten verkörpern, inszeniert Wieland in Dialogen als eskalierenden Machtkampf, gespiegelt in wiederkehrenden Reverenzen an seine Idole Ernest Hemingway und Robert Capa, die beide als Kriegsreporter in der Normandie waren.

Janko ist, wie sich herausstellt, der Sohn eines serbischen Kriegsfotografen und Capa-Verehrers, benutzt sogar noch dessen Kamera. Prompt geraten die beiden Auftragsabenteurer, enttäuscht von der mageren Ausbeute in zwei nordfranzösischen Niemandsorten, in die Dreharbeiten zu Christopher Nolans Film "Dunkirk" und wirken als Statisten mit. Außerdem begegnen sie, weil ja auch in Männerromanen à la Hemingway der weibliche Counterpart nicht fehlen darf, einer surfenden Künstlerin namens Zohra, in deren Fantasieuniversum die beiden berühmten Amerikaner ebenfalls eine wichtige Rolle spielen.

Sympathisch, dass Wieland die Regeln der Schreibschulprosa verweigert

Erotische Spannungen, die den Konflikt zwischen Leon und Janko verschärfen könnten, werden jedoch allenfalls angedeutet. Auch ist unübersehbar, dass Kai Wieland sich im schwäbischen Teil des Romans mehr zu Hause fühlt und seinem Helden dort, beim Graben im Familien- und Nachbarschaftshumus, intensivere Erfahrungen schenken kann als in der Normandie, wo er ihn dann Latte macchiato an der Strandpromenade von Boulogne trinken lässt - eine Insel der Banalität in einem Meer von Ernst und tieferer Bedeutung.

Es berührt sympathisch, dass Wieland die Regeln der Schreibschulprosa verweigert, vor allem das überstrapazierte "Show, don't tell". Er erklärt, reflektiert und philosophiert, wo es ihm angemessen erscheint, und nimmt dabei das Risiko von Überinstrumentierung und wackligen Bildern in Kauf. Darüber hinaus übt er sich in der Balance zwischen realistischem und fantastischem Erzählen, was man oft erst beim zweiten Hinschauen merkt, weil die Übergänge noch ungeschliffen sind.

Dieser Autor hat sehr viel im Kopf und womöglich müsste er, um dafür eine weniger angestrengte literarische Form zu finden, nur etwas Luft ablassen und die schräge Distanz des Beobachters zurückgewinnen, die sein Debüt "Amerika" zu einem Vergnügen machte.

© SZ vom 02.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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