Roman:Totales Chaos

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In "Der Sinn des Ganzen" zeichnet Anne Tyler mit einem Reigen kurioser, liebens- oder bemitleidenswerter Gestalten ein dezentes Biedermeier-Porträt.

Von Martin Ebel

Das sind die Nothelfer unserer Tage: Die Leute, die man anrufen kann, wenn der Computer streikt und die einen dann nicht am Telefon mit unverständlichen Anweisungen plagen, sondern gleich vorbeikommen. So einer ist Micah Mortimer, 43, Junggeselle, der neben der Computerei noch einen Hausmeisterjob in Baltimore erledigt. Seine Einmann-Firma hat er "Tech-Eremit" genannt, und auch sein Leben hat etwas Eremitenhaftes. Sein Tages- wie sein Wochenlauf ist penibel durchgeplant; wann er joggt und welche Runde, wann der "Staubsaugetag" ist (Freitag) und wann der "Bodenwischtag" (Montag): All das steht unverrückbar fest und gibt seinem Leben Halt und Struktur. Micah hat also eine kleine Zwangsneurose, aber darunter leiden weder er noch sein Umfeld, allenfalls macht es sich ein wenig lustig.

Anne Tyler begleitet ihren Helden durch seinen Arbeitstag, zu seinen Kunden, die er meist mit wenigen Handgriffen aus tiefster Verzweiflung zu euphorischer Dankbarkeit bewegt; zum feierabendlichen Treffen mit seiner Freundin Cassie, einer Lehrerin, (er hält sie auf Distanz, denn er findet es "unschön, wenn man Tag und Nacht mit einer Frau zusammen lebte"); und zu Familientreffen. Micah hat vier Schwestern, dazu Schwäger, Nichten und Neffen, eine muntere, laute, chaotische Truppe, in der er es nie lange aushält.

Ein unspektakuläres Leben, das jede Aufregung und Abweichung zu vermeiden sucht. Als einzige kleine Extravaganz leistet sich Micah Selbstgespräche beim Putzen und Autofahren, manchmal mit fremdländischem Akzent. Selbst seine Erfinderin gibt sich angesichts dieser Romanfigur einigermaßen ratlos: "Man wüsste wirklich gern, was im Kopf eines Mannes wie Micah Mortimer vor sich geht." So lautet der Eingangssatz von "Der Sinn des Ganzen", und er wird kurz vor Schluss fast wortgleich wiederholt.

John Updike hat sie bewundert, Nick Hornby tut es noch

Wer aber, wenn nicht sie, müsste das wissen? Es ist natürlich eine rhetorische Frage, ein gespieltes Sich-Wundern. Denn in seinem Kopf bewegen wir uns schon lange, und im Verlauf des schmalen Romans erfahren wir alles, was es über den Ursprung von Micahs Sonderlichkeit zu wissen gibt. Elternhaus und Kindheit: ein vollkommenes Durcheinander. Das Studium: abgebrochen; Micah war die Aufstiegshoffnung seiner Familie und hat sie enttäuscht. Sein Ehrgeiz: Dass alles so bleibt, wie es ist. Sein Weltbild: tiefschwarz. "Im Grunde hatte er sein Land aufgegeben".

Es ist kein wohlhabendes Milieu, in dem er sich bewegt; seine Kunden sind Leute, die eben so über die Runden kommen. Seine Freundin Cassie hat einen Schüler, der mit seiner Großmutter in einem Auto lebt. Micah selbst kann auf keine Rente hoffen, und im Grunde weiß er, dass er auch innerlich "nur einen Staubsaugtag vom totalen Chaos entfernt" ist. Dieses Chaos zu entfesseln wäre für manchen Autor eine wahre Lust. Nicht für Anne Tyler, dazu hat sie ein zu ausgeglichenes schriftstellerisches Temperament, und dazu sympathisiert sie mit ihren Figuren viel zu sehr. So erschüttert sie die Zwangsidylle ihres Helden ("im Grunde war sein Leben schön") auch nur mit sanfter Hand. Es passiert nichts, was sich nicht einrenken ließe, und es renkt sich tatsächlich wieder ein, auch deshalb, weil Micah einmal die richtigen Worte findet.

Die findet Anne Tyler auch. In ihrem Roman zieht ein Reigen kurioser, liebens- oder bemitleidenswerter Gestalten an uns vorbei, gut erfunden, treffend gezeichnet; aber beim Weiterblättern sind sie bald wieder vergessen. Allenfalls Micah wird eine längere Verweildauer im Lesergedächtnis vergönnt sein; als eine jener Durchschnittsfiguren, die nur der Literatur aus der Anonymität zu heben gelingt.

Anne Tyler publiziert seit 1963, ihre Romane haben ihr renommierte Preise wie den Pulitzer eingetragen (1989 für "Atemübungen"), John Updike hat sie bewundert, Nick Hornby tut es noch. Sie hat also Fans unter den Kollegen, aber auch eine breite, treue Leserschaft. Der gibt sie mit "Der Sinn des Ganzen" vielleicht nicht das, was der (deutsche) Titel verspricht (im Original heißt es nüchterner "Redhead by the Side of the Road"). Aber ein paar Stunden kultivierten Zeitvertreib.

Anne Tyler : Der Sinn des Ganzen. Roman. Aus dem Englischen von Michaela Grabinger. Kein & Aber, Zürich 2020. 224 Seiten, 24 Euro.

© SZ vom 25.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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