Ein Pottwal schwebt am Himmel über der Stadt, ein kompakter Gigant mit kleinen Augen, einen Namen hat er auch: Litani. Er gleitet dahin, beobachtet, was sich unter ihm tut, besonders Unheil und Verbrechen haben es ihm angetan, und davon gibt es reichlich in Polens Hauptstadt im Sommer 1937.
Mitunter singt Litani, dann und wann schnappt er sich ein besonders unglückseliges Menschenwesen und verspeist es. Danach zieht er wieder seine Bahn, ungerührt. Und niemand außer dem 17-jährigen Mojzesz Bernstein kann ihn sehen.
Das Warschau des Jahres 1937 ist in Szczepan Twardochs Roman "Der Boxer" eine geteilte Stadt. Die Polen leben in den guten Vierteln, in den schlecht beleumdeten und armen die Juden. Es muss schon Besonderes geschehen - ein Bordellbesuch, ein Boxkampf, eine Fahrt zum arrivierten Schneider -, damit die Bewohner der einen Welt in die andere wechseln. Zumal in der jüdischen Jiddisch gesprochen wird, Polnisch eher selten und oft fehlerhaft, während das Jiddische bei den Polen natürlich verpönt ist.
Die scheint für Augenblicke eine fast heile Welt auf der Basis des organisierten Vebrechens
Nach den hochgelobten Vorgängern "Morphin" (2012) und "Drach" (2016) führt Twardoch hier nun mitten hinein in die jüdische Halb- und Unterwelt. Da wird gekokst und gehurt, geboxt und Schutzgeld eingetrieben, und wenn einer nicht zahlen kann, weil seine Geschäfte zu kümmerlich gehen, erscheint der imposante Boxer Jakub Shapiro, 37 Jahre alt, Schwergewichtler, tolle Figur, topmodische Anzüge. Er fackelt nicht lange.
Gleich zu Beginn wird der fromme Jude und unfähige Geschäftsmann Naum Bernstein an seinem langen Bart aus der Wohnung gezerrt und in den Kofferraum von Shapiros Buick geworfen. Er hat das Schutzgeld, das der "Pate" Jan Kaplica abkassieren lässt, nicht zahlen können; gevierteilt, mit abgesägtem Kopf, findet er sein grausiges Ende in den Lehmgruben vor der Stadt.
Sein 17-jähriger Sohn Mojzesz aber, der auf Shapiros tätowiertem Handrücken das hebräische Wort für "Tod" liest, muss die Verschleppung des Vaters hilflos mit ansehen. Noch am selben Tag verlässt er Mutter und Schwester auf Nimmerwiedersehen, die Schläfenlocken verschwinden, die Haare trägt er jetzt modern: Er wird zu Shapiros stillem Gefolgsmann, sogar zu einer Art Familienmitglied - und fünfzig Jahre später zum Erzähler des Buches. Nun ist er ein pensionierter israelischer General namens Mojzesz Inbar. Von seiner Frau verlassen, sitzt er in Tel Aviv an der Maschine und schreibt auf, was ein halbes Jahrhundert zuvor in Warschau geschah.
Das ist eine kluge und spannungsreiche Konstruktion, denn natürlich möchte man nicht nur wissen, wie es Mojzesz Bernstein unter dem Regime des dröhnend gemütlichen Chef-Verbrechers Kaplica und dessen rechter Hand Shapiro erging, man erführe auch ebenso gern, wie aus Bernstein schließlich Inbar, der hochdekorierte israelische Kriegsheld wurde.
Und die längste Zeit erhält dies Interesse beim Hin-und-Herschwenken zwischen Warschau im Jahr 1937 und dem Schreibkämmerchen in Tel Aviv anno 1987 auch äußerst lebhafte Nahrung: beim Abkassieren auf dem ärmlichen Judenmarkt, im Bordell von Ryfka Kij, einem einstigen Straßenkind wie Shapiro und in früheren Jahren dessen Geliebte, beim ungebremsten Konsum von Alkohol und Drogen, in der Begegnung mit Nutten, die von ihren gewalttätigen Freiern krankenhausreif zugerichtet werden. Mit den Gangstern fährt Mojzesz in luxuriösen Autos umher und lebt derweil harmonisch mit dem Boxer, dessen kluger, gebildeter Frau Emilia und den Zwillingen Daniel und David - eine fast heile Welt auf der Basis des organisierten Verbrechens.
In Tel Aviv umreißt Mojzesz Inbar zwischendurch seine eigene desolate Lebenssituation, in der immer wieder eine Frau auftaucht, die wohl einmal die seine war, die er aber bei einem Namen nennt, der nicht der ihre ist. Man versteht: Mit Mojzesz Inbar, der den Pottwal Litani beschwört, stimmt etwas nicht. Wer ist er wirklich, und wer die Frau, die nicht "Magda" gerufen werden will?
Die entscheidende Wende im gut geregelten Warschauer Ganovenleben tritt im Herbst 1937 durch die Politik ein (der auch hier wieder großartige Übersetzer Olaf Kühl erklärt am Schluss des Buches die extrem komplizierte politische Situation Polens vor 1939). Zu Beginn hatte Szczepan Twardoch den auf der extremen Rechten engagierten Sohn des Oberstaatsanwalts Ziembinski - "er sah aus wie die deutschen Sportler, arische Halbgötter" - in einem Boxkampf gegen Jakub Shapiro antreten und verlieren lassen. Im Oktober 1937 wird aus dem sportlichen Wettkampf eine politische Frontstellung: Die Juden unter Führung von Kaplica und Shapiro sind allesamt militante Linke, während die Polen einen Staatsstreich von ultrarechts vorbereiten.
Auf den Straßen marschieren die Bewaffneten gegeneinander, eine Namensliste mit zu Verhaftenden kursiert, und so gelangt der sozialistische Pate ins nach deutschem Vorbild "KZ" genannte Lager, Shapiro und seine Familie müssten dringend fliehen. Doch obwohl sie sogar schon im Flugzeug nach Palästina sitzen, wird daraus nichts. Shapiro lässt die Maschine umkehren, weil er sich in die Tochter des Oberstaatsanwalts verliebt hat; seine Familie wird dem Warschauer Ghetto nicht entgehen. Einzig der Ich-Erzähler Mojzesz Bernstein scheint es irgendwie bis nach Palästina geschafft zu haben.
Knochen splittern, Gliedmaßen werden amputiert, Verrat, Betrug, Bizarrerie
Ein hochpolitischer Stoff also, eine Fußnote nicht zuletzt zur aktuellen Diskussion über den polnischen Anteil am Holocaust. Aber so plastisch-drastisch und farbenfroh Twardoch aus dem Ganovenleben erzählt, so fabelhaft ihm die Schwenks zwischen den Handlungsorten gelingen - vom (historisch nicht verbürgten) Putschversuch der Ultrarechten im Oktober 1937 an weiß er erzählerisch nicht weiter. Und rettet sich in Gewalt-, Sex- und Ekel-Exzesse. Knochen splittern, Gliedmaßen werden amputiert, die Scheiße wogt meterhoch in Jauchegruben und Gefängniszellen, Verrat, Betrug und sexuelle Bizarrerie triumphieren, und der bei aller geschäftsmäßigen Brutalität lange sympathisch virile Gangster-Held entpuppt sich als schwanzgesteuertes Monstrum. Nur flüchtig wird dessen spätere Geschichte nachgetragen, die irgendwie in diejenige des Ex-Generals Mojzesz Inbar mündet.
Kann ein bis dahin glänzendes Buch auf seinen letzten 100 Seiten kaputtgehen? In diesem Fall wird es allemal deutlich beschädigt. Andererseits: Wenn die 350 Seiten zuvor nicht gelesen würden, wäre das ein wirklicher Jammer.