Roman "Die Villa":"Euer Vater ist ein Verbrecher"

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Land der Märchen, Mörder, Mitläufer: Postkarte mit Märchenmotiven aus dem Vogtland, wo Hans Joachim Schädlichs Roman spielt. (Foto: Imago)

Merkwürdig unberührt: Hans Joachim Schädlich ließ in seine Geschichte einer deutschen Kaufmannsfamilie zur NS-Zeit ziemlich sicher persönliche Erinnerungen einfließen.

Von Frauke Meyer-Gosau

Wie stoppt man eigentlich einen Panjewagen beim Bergabfahren? Mit diesen einspännigen, von kleinen grauen Pferden gezogenen Fahrzeugen war die Sowjetarmee im Sommer 1945 unter anderem auch ins idyllische Vogtland eingerückt. Die Kinder am Straßenrand, die gerade noch den Abzug der Amerikaner beobachtet hatten, schauten der Bremsmethode der Russen zu: "Die Kutschersoldaten zogen armdicke Baumstämme von den Wagen und schoben sie zwischen die Speichen der Hinterräder", heißt es in Hans Joachim Schädlichs Roman "Die Villa". Die Räder blockierten und ratterten bei zunehmendem Gefälle "wie Schlittenkufen über das Pflaster. Sie erhitzten sich, glühten und entzündeten die hölzernen Felgen" - und wurden, sobald die Talsohle erreicht war, von den Soldaten mittels eiligst herbeigeschleppter Wasserladungen gelöscht. Auch wie man "nach der Methode des dialektischen Materialismus" Geige spielt, wird erklärt. "Schon während des Aufstriches nehme die Hand die Bewegung des Abstriches vorweg. Und umgekehrt", erläutert Geigenlehrer Dämmer dem zehnjährigen Paul. Der versteht's nicht recht, doch mit der Wendung "und umgekehrt" hatte niemand anders als Josef Wissarionowitsch Stalin einst charakterisiert, wie Dialektik funktioniert. Da musste die Anweisung also wenigstens ideologisch ihre Richtigkeit haben.

Im Herbst 1939 zieht man in eine Gründerzeitvilla, da ist Polen schon besetzt

Bis aber die Panjewagen zum Halten gebracht sind und die bürgerliche Kunst des Geigenspiels salviert wird, ist in diesem Roman auf knappstem Raum schon eine Menge geschehen. Da haben die 18-jährige Bürogehilfin Elisabeth Ruttig und der 23-jährige Drogist Hans Kramer im Jahr 1931 geheiratet und ihr erstes Kind Georg bekommen - "zum ersten Mal mit einem Mann geschlafen und schon 'n Kind", klagt Elisabeth Jahrzehnte später; sie hatte für ihr Leben andere Pläne. In schneller Abfolge kommen danach zwei weitere Jungen hinzu, Kurt und Paul, die ersehnte Tochter lässt auf sich warten. Während dieser Zeit wird Hans Kramer im vogtländischen Oberheinsdorf zum Kompagnon im florierenden Wollhandelsgeschäft seines Schwiegervaters, 1934 lässt er sich mithilfe von NS-Arbeitsdienstlern ein geräumiges Haus bauen, samt Garage für den 130er Mercedes Benz. Im Herbst 1939 vergrößert er sich noch einmal und kauft eine Gründerzeitvilla in Reichenbach, und als die Familie ein halbes Jahr später einzieht, hat der Zweite Weltkrieg bereits begonnen: Polen ist besetzt, gerade marschieren die deutschen Truppen in Dänemark und Norwegen ein. Seinen Kunden teilt der stolze Villenbesitzer in einer Drucksache seine neue Anschrift mit und unterzeichnet: "Heil Hitler! Hans Kramer; Wolle".

Nazi-Sympathisant ist Hans Kramer schon seit den frühen Zwanzigerjahren. Während des vorübergehenden NSDAP-Verbots war er 1924 dem "Völkischen Block" beigetreten, hatte eine "Kampfgemeinschaft" gegen jüdische Kaufhäuser und gewerkschaftliche Konsumgenossenschaften gegründet und war am 1. Februar 1932, ein halbes Jahr nach seiner Hochzeit, Mitglied der NSDAP geworden. Rasch steigt er zum Ortsgruppenleiter auf und muss es daher umso kränkender finden, dass nicht nur der älteste Bruder seiner Frau ihn für einen "kleinen Itzig" hält, sondern auch ein Geschäftspartner Anspielungen auf seine schwarzen Locken und seine Nase macht - energisch betreibt Kramer die "Komplettierung des Ahnenpasses".

Überhaupt geschieht in "Die Villa" nach und nach alles in etwa so, wie es die Geschichtsbücher für den Zeitraum zwischen 1931 und 1951 festhalten, allerdings in eigentümlich reduzierter Form. Der einzige Jude weit und breit, Gymnasiallehrer Dr. Roth, wird 1933 suspendiert. Zu Hans Kramers Söhnen hatte er gesagt: "Euer Vater ist ein Verbrecher", doch den Ortsgruppenleiter scheint's nicht anzufechten: "Ein böser alter Mann. Macht euch nichts draus." Im Herbst 1938 kann Roth aus Deutschland fliehen. Elisabeths Schwester Gerda heiratet einen SS-Mann, Schwester Karla ist in Böhmen mit einem Gefolgsmann der Henlein-Partei "Heim ins Reich" verheiratet. Auf der anderen Seite kommen unbescholtene Bürger ins KZ (sind aber bald wieder frei), und im Ort tauchen französische, später dann auch russische "Fremdarbeiter" auf, die von Kramer und seiner Familie freundlich behandelt werden. Als Elisabeths schizophrener Bruder Fritz im Rahmen des nationalsozialistischen Tötungsprogramms im September 1940 ermordet wird, trauert zwar seine Mutter, doch weitere Auswirkungen scheint dieser Tod innerhalb der Familie nicht zu haben. Der Ortsgruppenleiter selbst hat keine Probleme, seinen ältesten Sohn auf dessen Wunsch hin von der HJ dispensieren zu lassen, den Zweitältesten dagegen schickt er auf ein Napola-Internat: "Kurt braucht eine strenge Zucht." Dass Kurt dort als Teil der künftigen NS-Elite ausgebildet wird, hält offenbar niemand für bedenkenswert.

Es gibt, soweit es um die eigene Teilhabe am politischen System geht, in "Die Villa" kein engagiertes Dafür- und auch kein Dagegen-Sein, von niemandem - alles ist einfach so und geht so dahin. Erst im Mai 1943, nach dem Untergang der 6. Armee vor Stalingrad, ertönt fundamentale Kritik, und zwar nun ausgerechnet vom NS-Funktionär Hans Kramer: "Ich fürchte mich. Der Krieg überall in Europa. Die Behandlung der Juden. Die KZs. Stalingrad. Die vielen Toten. Das sind Verbrechen! Ich habe meine besten Jahre Verbrechern geopfert." Am 21. August desselben Jahres stirbt er, 38-jährig, an seinem Herzleiden.

Der Autor pflegt einen extrem sparsamen Berichtsstil

Welche "Opfer" Kramer dem NS-System gebracht haben will, bleibt allerdings rätselhaft - der Leser erlebt ihn als Geschäftsmann mit Bilderbuchfamilie, prosperierender Firma und repräsentativer Villa. Für irgendeine Tat hat er das "Kriegsverdienstkreuz" erhalten, in seiner politischen Tätigkeit aber ist er nie zu sehen. Über seine Söhne heißt es: "Sie wussten überhaupt nicht, was ein Nationalsozialist und Ortsgruppenleiter ist." Dies indes bleibt ebenso wenig glaubhaft wie ein Nazi der ersten Stunde, der seinen jüngsten Sohn mit schulterlangem Lockenhaar jahrelang in Mädchenkleidern aufwachsen lässt, bis endlich die ersehnte Tochter geboren wird. Wie Paul die nach Theas Geburt jäh veränderten elterlichen Geschlechtszuschreibungen erlebt hat, wird nicht mitgeteilt.

In seinem extrem sparsamen Berichtsstil läuft der Roman noch über das Kriegsende hinweg und erfasst die Anfangsjahre der DDR: Seit 1944 ist die Villa verkauft, die Kinder wachsen heran und werden zur Ausbildung an verschiedene Orte geschickt. Die Mutter zieht mit Paul, Thea und ihrem neuen Mann nach Bad Saarow; ein Angebot, den Amerikanern nach Bayern zu folgen - "nach uns kommen die Russen!" -, hatte sie abgelehnt. Mit dem gleichen Stoizismus wie zuvor Ehe, Familie und NS-Regime wird sie im Folgenden wohl die DDR-Verhältnisse hinnehmen.

Man kann ziemlich sicher sein, dass in dieses Buch persönliche Eindrücke und Erinnerungen Hans Joachim Schädlichs eingeflossen sind, dass sie es geprägt haben: Wie Paul ist er im Jahr 1935 im vogtländischen Reichenbach geboren, auch sein Vater war Kaufmann und starb jung, wie Paul ging er in Bad Saarow zur Schule, und es ist hier das erste Mal, dass Schädlich in einem literarischen Text auf einen Stoff aus seiner frühen Biografie zurückgreift. Da mag es sein, dass die Nähe zur eigenen Kindheitserfahrung dazu geführt hat, dass der Nationalsozialismus hier trotz all der Parteigenossen im Familienkreis ausschließlich im Hinblick auf die großen historischen Abläufe Macht gewinnt, das Familienleben selbst aber unberührt lässt: Gerade der extrem ausgedörrte Berichtsstil von "Die Villa" ist geeignet, das persönliche Material, von dem der Roman erzählen soll, zugleich bestmöglich zu schützen. Wenn sich Pauls Tante Karla bei Kriegsende im Rückblick auf ihr eigenes bisheriges Leben fragt: "Das war dann alles?", stimmt der Leser von "Die Villa" jedenfalls in ihr Seufzen und Bedauern ein - so viel lebendiger Stoff und so kunstvoll stillgestellt dies alles.

Hans Joachim Schädlich: Die Villa. Roman. Rowohlt Verlag, Hamburg 2020. 189 Seiten, 20 Euro.

© SZ vom 25.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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