Roman:Die längsten Sätze der Schweiz

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„Ich überfordere mich ja selbst“: der Schweizer Schriftsteller Reto Hänny. (Foto: Ayse Yavas)

Gerade ist Reto Hännys komplizierter, maßloser, aufregender Roman "Sturz" erschienen. Ein Treffen mit dem Autor.

Von Martin Ebel

Wer vor ein paar Jahren eine Ausstellung im Kunsthaus Zürich besuchte, konnte auf einen Wärter mit einem bekannten Gesicht treffen: den Schriftsteller Reto Hänny, der sich dort ein paar Franken verdiente und es ansonsten genoss, großen Kunstwerken nahe zu sein. Reto Hänny war eine Zürcher Prominenz wider Willen. 1980, im Umfeld der Opernhauskrawalle, war er von der Polizei niedergeknüppelt worden, noch in der Gefängniszelle entstand "Zürich, Anfang September", ein mittlerweile ikonischer Text über diese Zeit.

1994 gewann Hänny in Klagenfurt den Ingeborg-Bachmann-Preis, von dem er heute sagt: "Das war der totale Karriereknick!" Vom Preis selbst war er bereits überrumpelt, mehr noch von dem, was darauf folgte: eine Kampagne in der Boulevardpresse wegen "Gewaltpornografie". Das lief und funktionierte damals noch ganz ohne Hashtag. Auf der Straße, in der Tram im Supermarkt wurde er angepöbelt, natürlich von Leuten, die den komplizierten Text gar nicht gelesen hatten: "Da hockt der Schweinehund!"

"Ich dachte, ich schreibe nie mehr was", erzählt Hänny bei einem Cappuccino im Zürcher Kunsthaus-Café. Der 72-Jährige mit charakteristischem Haarkranz - dünn, aber lang - erzählt ohne Punkt und Komma. Manchmal glaubt man sich in seinem neuen Roman, in dem man ebenfalls lange auf einen Punkt warten muss, manchmal zehn Seiten und mehr.

Gerade ist der Roman erschienen, "Sturz" heißt er, ein fast 600-seitiges Opus, das sein Berliner Verlag als "Schweizer Ulysses" ankündigt. Das ist wie alle derartigen Etiketten natürlich Blödsinn, aber als Referenz doch plausibel: Mit James Joyces Dublin-Epos hat der kleine Reto einst seine Lese- und Rechtschreibschwäche überwunden: "Das war die Idee meines Lehrers, des rätoromanischen Dichters Cla Biert. Ich durfte das berüchtigte Buch in der Bibliothek nicht ausleihen, sondern nur jeden Tag eine Stunde im Hinterzimmer darin lesen." Mit "Blooms Schatten" hat Hänny dem Autor seiner Rettung noch einmal gehuldigt: Das Buch schreibt den "Ulysses" noch einmal, auf hundert Seiten und in einem einzigen Satz.

Auch "Sturz" ist ein Rewriting, der Untertitel lautet passenderweise: "Das dritte Buch vom Flug". Der erste "Flug" war 1985 erschienen, die zweite, überarbeitete Fassung 2007 in der Bibliothek Suhrkamp. Siegfried Unseld hat ihn sehr gefördert, aber dass er ihm eine Pauschale gezahlt und eine Villa geschenkt habe: Das war bloß ein (von neidischen Kollegen gestreutes?) Gerücht.

Der dritte Flug, also "Sturz", ist fast dreimal so lang wie seine Vorgänger, aber in der Struktur und im Charakter ähnelt er ihnen. Es geht wieder um den Traum vom Fliegen, illustriert am Luftfahrtpionier Louis Blériot und an einem kleinen Bündner Bauernbuben, der mit einem Spielzeugpropeller im Wohnzimmer herumkreist und die versammelte Familie so nervt, dass der Großonkel ihm das Spielzeug zerbricht.

Ein Trauma, würde ein Psychoanalytiker folgern; in jedem Fall ein Schlüsselmoment der in Literatur verwandelten Biografie. Sicher, "Sturz" besteht aus biografischem Material, Kindheit, Schulzeit, schwieriger Jugendzeit in der verhockten Provinzstadt "Ruch" (Chur), musikalischen Erweckungserlebnissen mit Bartók und Free Jazz. Aber es ist eben Material, jetzt, beim dritten Anlauf, mehr denn je. Er sei viel freier, seit etliche Vorbilder der Figuren tot seien, sagt Hänny.

Aber auch stärker gefordert: Das Material öffnet sich beim Überschreiben, gibt mehr und mehr Details preis, die ihre Versprachlichung verlangen. Es ist, als ob der Autor immer stärkere Lupen benutzt, um noch mehr aus dem Stoff herauszuholen. Es sind besondere, fantastische Lupen, denn das erinnerte Detail setzt Assoziationen frei, kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen, schwingt sich auf in entfernte Regionen, will einfach nicht zum Punkt kommen. Reto Hännys Sätze waren schon immer lang. Jetzt ufern sie noch mehr aus. Dass sie über mehrere Seiten gehen, ist der Normalfall. Es sind Sätze, die fliegen, aber niemals landen mögen. Eingeklammerte Einschübe, Parenthesen weiten sie aus, manchmal holt er zwischen Artikel und Substantiv noch einmal tief Atem, und allein dieser Zwischenraum würde die Textchefs jedes journalistischen Mediums zum Rotstift greifen lassen.

Keinen Rotstift, aber einen Bleistift hat der Kritiker gelegentlich benutzt, um sich die Bezüge in den Satzmonstern klarzumachen. Und dabei an seinen Lateinunterricht denken müssen, wo es hieß: Suche das Prädikat, dann das Subjekt! Solch eine Literatur ist das also. Sie hat nichts mit gut konsumierbaren Plots zu tun, die auf die Bestsellerlisten wandern. Auch nicht mit der "gendergerechten Bachelor-Literatur", die "auf Teufel komm raus gefördert" werde, wie es im Buch, in einem polemischen Anhang, heißt. Dort bekommen auch die Kritiker ("Aasgeier") ihr Fett weg, so wie die "Patrioten" ("der Teil der Bevölkerung, der sich mit dem Volk gleichsetzt").

Reto Hänny ist mitnichten altersweise oder altersmild geworden, und "Sturz" ist politischer als die Vorgängerversionen. Auch härter. Seine Kindheit, das wird jetzt noch klarer, "war keine Landidylle". Es gibt harte, ja grausame Passagen im Roman, etwa eine Fortspinnung des satirischen Vorschlags von Jonathan Swift, die Kinder der Armen als Einjährige an Adlige zu verkaufen, als kulinarische Delikatesse.

Literatur entsteht aus Literatur, davon ist Reto Hänny überzeugt, und neben seinem Lebensstoff, der durch die mehrfache Bearbeitung längst literarisches Material geworden ist, finden sich in "Sturz" offene oder versteckte Zitate und Passagen von etlichen Autoren, auch wieder von Joyce, dessen "Ulysses" hier ein weiteres Mal nacherzählt wird (nicht auf 100 Seiten, aber immerhin auf 14).

"Ich habe erfunden, ich habe mich erinnert, und ich habe kombiniert": In diesem Satz von Flaubert findet Reto Hänny sein poetisches Konzept gut ausgedrückt. Dass er einige Leser überfordert, ist ihm klar, aber: "Ich überfordere mich ja selbst." Mühsame Arbeit sei das, an den Sätzen zu schrauben, bis sie richtig klängen. Tatsächlich liest er sie sich laut vor, und er besteht darauf, dass die seitenlangen Getüme bei Lesungen verständlicher rüberkommen als bei stiller Lektüre.

Reto Hänny schreibt so, wie er schreiben muss. Aber das Ergebnis lässt sich auf vielfältige Weise lesen, jedenfalls "nicht als Botschaft eines Autor-Gottes". Es ist vielmehr ein Raum, der eine Vielzahl von Schreibweisen vereinigt und in dem sich der Besucher nach Belieben bewegen kann. Die Leser Reto Hännys sind frei. Sie können das Buch nach Ende und Absturz - "und wir bereits zerschellt" - wieder von vorn anfangen - "durchaus möglich" beginnt es. Sie können aussteigen und wieder einsteigen. Natürlich gibt es einfachere Lektüren. Aber wer sich für Literatur am Extrem ihrer Möglichkeiten interessiert, der kommt um Reto Hänny, diesen Sprachberauschten, Sprachverrückten, Sprachmagier, nicht herum.

Reto Hänny : Sturz. Das dritte Buch vom Flug. Roman. Matthes & Seitz, Berlin 2020. 580 Seiten, 36 Euro.

© SZ vom 05.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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