Roman:Auf der Hochebene

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Mit dem Buch "Acht Berge" hat Paolo Cognetti den "Premio Strega" gewonnen. Er feiert das Italien der Regionen, aber nicht den politischen Separatismus.

Von Maike Albath

Grenzgebiet zwischen der Schweiz und Italien: Dohlen am Gebirgsmassiv "Monte Rosa", das in Cognettis Roman den Hintergrund bildet. (Foto: Denis Balibouse/Reuters)

Oberhalb von dreitausend Metern gibt es nur noch Geröllfelder und Felsgruppen, umgeben von schiefergrauen Berggipfeln. Quarzadern durchziehen die Steine, im Schatten der Felswände halten sich bis in den Juni Schneereste, an manchen Stellen lugen gelbe Flechten hervor. Jenseits der kargen Hänge erhebt sich der Monte Rosa, drum herum die anderen Gletscher; weiter unten liegen Hochmoore, Weiden, kleine Seen und Wildbäche, und noch weiter unten Lärchenwälder und Kiefernhaine, in denen Wacholder, Heidelbeeren und Rhododendron wachsen. Die Bergwelt der italienischen Westalpen hat sich seit Jahrhunderten nicht verändert, selbst in den frühen 1980er-Jahren sind etliche Täler noch unberührt.

Genau das zieht eine Familie aus Mailand immer wieder hierher. Pietros Eltern haben sich in der lombardischen Metropole nie eingelebt, denn sie sind gebürtige Veneter aus den Dolomiten. Ihre Wahlheimat ist ein abgelegener Ort namens Grana auf der Halbhöhe, wo sie ein Haus mieten und jedes Jahr die Sommermonate verbringen. Hier schließt Pietro, der als Ich-Erzähler die Geschehnisse aus der Retrospektive aufrollt, Freundschaft mit dem gleichaltrigen Bruno, dem jüngsten der vierzehn Dorfbewohner. Und hier unternimmt er mit seinem Vater seine ersten Gletscherbesteigungen, die immer nach denselben Ritualen ablaufen.

Bergsteigen ist die einzige Erziehung, die der Vater dem Sohn hat zukommen lassen

Der italienische Schriftsteller Paolo Cognetti, 1978 in Mailand geboren, ehemaliger Dokumentarfilmer und selbst die Hälfte des Jahres auf 2000 Meter Höhe im Val d'Aosta zu Hause, hat mit seinem dritten Roman "Acht Berge" einen Coup gelandet. Er erhielt dafür den wichtigsten italienischen Literaturpreis, den Premio Strega, und das Buch wurde in mehr als dreißig Sprachen übersetzt. In seiner autobiografisch inspirierten Entwicklungsgeschichte vermittelt Cognetti eine uritalienische Erfahrung, die derzeit auf neue Resonanzräume stößt.

Was wie eine Mischung aus Vater-Roman, Studie einer versehrten Männlichkeit und Selbsterkundung des Ich-Erzählers daherkommt, ist zugleich das Porträt der sehr eigenen Bergbevölkerung mit ihrer kraftvollen bäuerlichen Kultur und ihren Handwerken. Der Bruch mit der agrarischen Gesellschaft, der im Piemont, in Aosta und der Lombardei die Entvölkerung ganzer Täler mit sich brachte, vollzog sich in Italien erst in den Sechzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Bergbauern verließen ihre Dörfer und wurden Fabrikarbeiter in Turin oder Mailand. Die Erfahrung der Entwurzelung setzte sich bis in die Generation der Kinder fort; aber anders als in der französischen Provinz, deren soziale Zerstörung Didier Eribon in "Rückkehr nach Reims" so eindrucksvoll beschrieb, verloren die italienischen Arbeiter nie die Bindung an ihre Herkunft. Sie behielten ihr Land und gaben es an ihre Kinder weiter. Der nachfolgenden Generation eröffnete sich dadurch eine zusätzliche Perspektive.

Das gilt auch für das Vater-Sohn-Gespann in Cognettis Roman, das durch den brüderlichen Freund Bruno erweitert wird. Dem Vater Gianni war durch sein Chemiestudium der soziale Aufstieg gelungen, allerdings um den Preis einer tiefen Spaltung. Der Ich-Erzähler Pietro schildert immer wieder, wie sich aus dem cholerischen, schimpfenden, selbstbezogenen Mailänder Vater auf Bergwanderungen ein ganz anderer Mensch hervorschält: Ein euphorischer, lebhafter und energiegeladener Mann, der seinen Sohn mit der Liebe zu den Gletschern infiziert.

Bergsteigen sei die einzige Erziehung, die ihm der Vater habe zukommen lassen, stellt Pietro fest, der sich als Heranwachsender dem Einfluss des charismatischen Patriarchen entzieht, während der sesshafte Bruno, mittlerweile Maurer von Beruf, sich ihm immer enger anschließt. Erst nach Giannis plötzlichem Tod kehrt der mittlerweile einunddreißigjährige Pietro nach Grana zurück und entdeckt, dass ihm der Vater ein Grundstück mit einem alten Stall auf der Hochebene vererbt hat. Gemeinsam mit Bruno baut er einen Sommer lang das Gemäuer zu einer Berghütte aus.

Im Hochgebirge mehren sich die Zeichen der Klimakatastrophe - aber es bleibt ein Ort der Utopie

Paolo Cognetti. (Foto: Roberta Roberto)

Geschmeidig entfaltet Cognetti die Innenwelt seines Erzählers, lässt ihn die Kinderfreundschaft zu Bruno nachzeichnen und die konfliktreiche Beziehung zu seinem Vater. In den Tiefen waltet ein Familienmelodram, das den Lebensweg der Eltern bestimmt hat. Der Schriftsteller bedient einen eher biederen Realismus, was man ihm aber verzeiht, weil ihm nahezu impressionistische Landschaftsbeschreibungen gelingen, die Dramaturgie der Geschichte funktioniert und er ein Gespür für die Psychodynamik seiner Charaktere hat. Nur manchmal leuchtet Cognetti den seelischen Zustand seines Personals mit allzu expliziten Deutungen aus und erzeugt dadurch banalisierende Effekte. Die im Titel des Romans aufgegriffene Vorstellung, die Welt bestehe aus acht Bergen, stammt aus dem Himalaja. Ein nepalesischer Lastenträger malt Pietro, der für Dokumentarfilme immer wieder in diese Region zurückkehrt, einen Kreis in den Sand und erläutert ihm die Bedeutung der Lebensweisheit.

Ernest Hemingway, Jack London und Henry David Thoreau mögen bei den Naturbeschreibungen und den Schilderungen der Männerbeziehungen hineinspielen, genauso wie der Film "Brokeback Mountain". Aber man muss Paolo Cognettis "Acht Berge" auch auf dem Hintergrund einer italienischen Ausprägung von Heimatliteratur sehen. Die Futuristen verherrlichten das Urbane, Benito Mussolini berief sich auf die Antike und verachtete den Regionalismus, während Schriftsteller wie Cesare Pavese und später Pier Paolo Pasolini die regionalen Landschaften ihrer Herkunft, das Piemont und den Friaul, literarisch in Besitz nahmen, Dorfromane und dialektale Gedichte schrieben. Diese Bewegung war der politischen Linken verbunden, auch die Resistenza-Erfahrung war eine des Gebirges. Pasolini verstand später das vornationale, bäuerliche Universum als Gegenmodell zur Welt von Konformismus und Konsum.

In dieser Tradition hat der italienische Bergroman nichts ganghoferhaft Romantisch-Idyllisches, auch nichts von der stählernen Berg-Ästhetik einer Leni Riefenstahl, sondern entfaltet ein kritisches Potenzial. Das reicht von Dino Buzzatis Klassiker "Die Tatarenwüste" (1940) über einen bis zur Sinnlosigkeit pflichtbewussten Soldaten, den Resistenza-Roman "Wo Spinnen ihre Nester bauen" (1947) des jungen Italo Calvino und Beppe Fenoglios "Partigiano Johnny" (1968) bis hin zu Mario Rigoni Sterns "La storia di Tönle" (1978) über das Schicksal eines Bauern während des Ersten Weltkrieges.

In den vergangenen Jahren hat vor allem der Piemontese Davide Longo in seinen Romanen "Der Steingänger", "Der aufrechte Mann" und "Der Fall Bramard" die Welt der Berge als erzählerischen Raum neu erschlossen. Auch bei Cognetti sind die Alpen ein vielschichtiger Ort. Auf der einen Seite scheint sich hier bereits die Klimakatastrophe mit übermäßigem Schneefall, Gletscherschmelze, Lawinen und Abgang von Gesteinsmassen abzuzeichnen. Auf der anderen Seite ist das Hochgebirge ein Hort der Utopie. Bruno und Pietro hadern zwar mit ihren Vätern - das Band zur Herkunft wird dennoch nicht gekappt, die Genealogie bleibt unangetastet.

Anders als bei Didier Eribon wird hier die Elterngeneration nicht übertrumpft oder verleugnet, es geht eher um die Rückgewinnung dessen, was diese verlassen hatte. Cognettis Helden sind linke Dropouts, denen der Sezessionismus der politischen Rechten fremd ist, aber die gesellschaftliche Anpassung der Väter nehmen sie zurück. Ihr Fluchtpunkt sind die Berge.

Paolo Cognetti: Acht Berge. Roman. Aus dem Italienischen von Christiane Burkhardt. DVA, München 2017. 285 Seiten, 20 Euro. E-Book 15,99 Euro.

© SZ vom 04.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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