Roberto Bolaño: "Lumpenroman":Köderfisch

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Erwachsenwerden als Höllenfahrt: Roberto Bolaños "Lumpenroman" erzählt von einer räudigen Jugend in Italien. Bianca macht sich die sexuelle Hörigkeit der Männer zunutze, um sich von ihnen zu befreien.

Ch. Schmidt

Die einzige Bianca, die in die Literaturgeschichte eingegangen ist, hat drei kurze Auftritte in Shakespeares Tragödie "Othello". Diese Bianca ist räudige Hure und große Liebende zugleich, vereint also Treue und Treulosigkeit in sich. Jetzt gilt es, eine neue Bianca kennenzulernen, und auch diese Bianca ist Weltliteratur. Und treulos-treu wie ihr Vorbild. Die Ich-Erzählerin aus Roberto Bolaños nachgelassenem "Lumpenroman" ("Una novelita lumpen"), der jetzt auf Deutsch erscheint, macht sich die sexuelle Hörigkeit der Männer zunutze, um sich von ihnen zu befreien.

Der Müll, die Stadt, die Not: "Lumpenroman" beschreibt aus der Sicht des Mädchens Bianca das Leben im Moloch von Rom. (Foto: dpa)

Shakespeares Bianca ist eine betrogene Betrügerin, Bolaños allenfalls eine betrügerische Betrogene, obwohl sie sich selbst eine "Kriminelle" nennt, eine "Ratte", einen "Maulwurf" oder einen "Köderfisch". Denn auf die Frage, welcher Fisch sie gerne wäre, wenn sie ein Fisch sein könnte, antwortet Bianca: "Einer von denen, die man als Köder verwendet". Die Frage steht in einem Fragebogen aus einer der Frauenzeitschriften, die in dem Friseursalon ausliegen, in dem Bianca ihr Geld verdient. Denn, so erläutert sie ihre Wahl, allein die großen Fische, die Eltern leben noch im See. Die kleinen Fische, die Jungen der großen, werden im Laden gekauft und dienen nur als Köder.

Bianca beschreibt damit das Lebensgefühl heutiger Jugendlicher in Italien, in einer kranken, kaputten Gesellschaft, von der es heißt, "und ab und zu fuhr auf der Straße ein nagelneues Auto mit heruntergekurbelten Scheiben vorbei, in dem junge Leute saßen, die ,Faschismus oder Barbarei' schrieen". Es ist das Lebensgefühl einer Jugend ohne Kindheit - und darin besteht der Betrug, der Bianca zur Betrügerin werden lässt, der Grund, weshalb sie den Köder spielt. In der verkommenen Villa des erblindeten Filmschauspielers Maciste, einst zweimaliger Mister Universum und Held unzähliger Sandalenfilme, soll sie den Tresor auskundschaften.

Die Fischer, die ihre Angel auswerfen, um den Goldschatz des gewesenen Kinostars zu heben, das sind Biancas Bruder und dessen neue Freunde, ein Bologneser und ein Nordafrikaner. Die beiden haben sich bei Bianca und ihrem Bruder in Rom eingenistet und nehmen in parasitärer Weise die Rollen der Eltern ein, in deren Bett sie schlafen. Die Eltern sind bei einem Autounfall umgekommen, ein Trauma, das Bianca blitzhaft erlebt, als eine dauernde kalte Helligkeit auch in der Nacht, als eine "Weißglut", die nicht mehr nachlassen will. Der plötzliche Tod der Eltern versetzt die Geschwister in eine Schockstarre und disponiert sie für eine gespenstische Selbsterziehung zur Lieblosigkeit, als wollten sie ihre Wunde vereisen.

Abhärtung für den Lebenskampf

Als Wachstumsbeschleuniger, um schneller erwachsen zu werden, dienen die Geräte im Fitnessstudio, an denen der Bruder sich Männlichkeit antrainiert, und die Pornovideos, die er jeden Abend ausleiht, während die "Allesfresserin" Bianca wahllos jeden Trash konsumiert, den es gibt. So wollen sie stark werden, sich einen Panzer zulegen - es ist eine Abhärtung für einen Lebenskampf, der keine Zeit zum Reifen lässt, und bei dem, wie es für heutiges Jungsein typisch ist, die Reihenfolge vertauscht ist: die Formen, in denen persönliches Erleben gerinnt, sind immer schon vor diesem Erleben da.

Es gibt nichts mehr zu entdecken, alle Erfahrung ist vorgestanzt, und zwar in den jeweiligen Endstufen ihrer Brutalisierung, Pornographie und Gewalt. So ist die Jugend schon enteignet von Beginn. Sie versuchte, "die wenigen Dinge zu vergessen, die ich wusste", sagt Bianca über diese Phase einer Löschung der eigenen, schmerzhaften Lebensgeschichte, an deren Stelle die kollektiven Mythen der Massenkultur treten. Es ist, als müsse man stumpf werden, um den Aufprall der Wirklichkeit zu ertragen, und dazu gehört, dass Bianca Nacht für Nacht mit einem der zwei Fremden schläft, ohne wissen zu wollen, welcher von beiden bei ihr liegt. Und wenn die Gefühle sich doch nicht unterdrücken lassen, dann rinnen ihre Tränen, als träte sie "in einen Windkanal, der mich grundlos zum Weinen brachte."

Doch Bianca weint nicht, als sie hinabsteigt in die Hölle, ahnend, dass nur dieser Gang sie erlösen kann, weil ihr niemand folgen wird, weil ihr Bruder und seine Freunde feixend an der Pforte zurückbleiben. Sie denken, dass Bianca den Schlüssel zum großen Geld für sie aus dem Feuer holt, aber sie wird sich selbst aus den Flammen bergen und zurück an die Oberfläche kommen als Neugeborene. Die Hölle, das ist die Villa des glatzköpfigen Blinden in der Via Germano, der im Dunkeln wartet, im Fitnessraum, wo er Bianca mit Massageöl einsalbt, bevor er sie zum Schreien bringt. Und wenn Maciste schläft, ermattet vom Kraftsport der Liebe, durchsucht Bianca das Haus nach seinem Tresor.

Niemand fühlt die Verlorenheit

Und doch fasst Bianca eine Art Zutrauen zu diesem Ungeheuer von Mann in seinem schwarzen Bau, diesem Minotaurus, der mehr und mehr wirkt wie ein trauriges Tier, das letzte seiner Art. Und sie wird stark an seiner Stärke, der "fast übernatürlichen" Kraft, "im Schmerz zu leben". Ihre Ahnung bestätigt sich, dass man sein Glück nicht wenden kann, entweder es ist da oder nicht, und wenn nicht, "geht es uns wie Vögeln in einem Sandsturm", deren Verlorenheit niemand fühlt.

Die Leidensfähigkeit macht sie überlegen, sie bringt die Dunkelheit zurück, einen Schutzraum, "wo ich weinen und mich vor Schmerz krümmen konnte." Und widerstehen. Indem sie sich Maciste anvertraut, bevor sie ihn für immer verlässt, hat Bianca ihren Bruder und dessen Freunde in der Hand, kann sie fortschicken, frei von Angst. "Ich dachte, ich müsse einen Platz für mich finden, müsse mir eine Wohnung besorgen, eine neue Arbeit, müsse etwas tun und nicht sterben", sagt sie am Ende, da sie schwanger ist, ohne zu wissen, von welchem Mann.

Bolaños "Lumpenroman" folgt dem klassischen Topos, dass an der Schwelle zwischen Kindheit und Erwachsenwerden eine Prüfung zu bestehen ist, Tod und Wiedergeburt. Aber die Ungebrochenheit, mit der sich Bolaño der so unerbittlich zarten Stimme seiner jungen Erzählerin anvertraut, verleiht ihrer Gefühls- und Erfahrungswelt den Zauber des Anfangs. Das ist keine Rollenprosa, sondern die Wiedergewinnung einer verlorenen Unmittelbarkeit. Bolaños dunkel leuchtende, phosphoreszierende Poesie gibt einer sich ewig wiederholenden Urszene die mythische Einmaligkeit und damit jene Würde zurück, welche die Würdelosigkeit der Welt, in der Bianca zu bestehen lernt, ihr vorenthält.

Mit dem "Lumpenroman" ist ein weiteres Stück aus dem literarischen Vermächtnis des 2003 verstorbenen Chilenen Roberto Bolaño geborgen. Sein unvollendetes Werk umgibt die schmerzhafte Schönheit eines Torsos. Ein Wunder ist jeder Fund, mit dem Bolaño aufs Neue berückt.

ROBERTO BOLAÑO: Lumpenroman. Aus dem Spanischen von Christian Hansen, Hanser Verlag, München 2010, 112 Seiten, 14,90 Euro.

© SZ vom 17.08.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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