Roadnovel:"Nicht sie weint, sondern ich"

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"Schließlich hatte ich in jahrelangen Sitzungen bei Frau Dr. Luise gelernt, dass der Holocaust nicht mehr das Grundthema meines Lebens sein sollte": Adriana Altaras erinnert sich aber doch in "Die jüdische Souffleuse".

Von Claudia Tieschky

Erinnerung ist ganz toll für alle, die dabei nichts riskieren, kein Ins-Schlingern-Kommen wegen irgendwelcher Gefühle, keine größere Ablenkung vom Alltag, nichts, was zu viel Platz einnähme oder unerklärliches Verhalten auslösen könnte. Insofern ist es völlig logisch, dass Adriana, die Ich-Erzählerin dieses Romans, absolut keine Lust darauf hat. "Schließlich hatte ich in jahrelangen Sitzungen bei Frau Dr. Luise gelernt, dass der Holocaust nicht mehr das Grundthema meines Lebens sein sollte."

Diese Adriana ist so etwas wie die gesampelte Version der echten Berliner Autorin und Regisseurin Adriana Altaras. In dem von Regina Schilling verfilmten autobiografischen Buch Titos Brille erzählte sie von ihrer jüdischen Familie, von den kommunistischen Eltern, beide ehemalige Partisanen, die Mutter hat das KZ überlebt. Titos Brille war eine Erinnerungs- und Selbsterforschungsreise, die vielleicht vor allem deshalb gut ankam, weil sie witzig und ironisch - also zugänglich - mit dem Todtraurigen umging. Regina Schilling habe es einmal so beschrieben, sagte Altaras in einem Interview, "dass ich den Leuten die Scham wegnehme, die Angst vor den Juden".

Witzig ist die Erzählerin Adriana immer noch, aber diesmal weigert sie sich, zurückzuschauen. Sie hat nur auf eines Lust, auf Oper und Theater, das ist ihr Beruf, den sie als Regie-Wanderarbeiterin in deutschen Provinzstädten ausübt, "in denen es aussieht, als wären die Alliierten erst am Vormittag abgezogen". Mozarts "Entführung aus dem Serail" soll inszeniert werden, das ist aus vielen Gründen ein Wahnsinnsunternehmen. Der Leser darf sich amüsieren, wenn die Erzählerin Verzweiflung mit Crémant bekämpft oder den Kontakt mit dem Ensemble aufnimmt: "In meinem letzten Opernhaus kam der Chor größtenteils aus der Ukraine, sage ich, hier also aus Bulgarien. Hat einer von euch das restliche Dorf nachgeholt? Mein Scherz kommt mäßig an, also wende ich mich den Koreanern zu." Zur Burleske gehört, dass der Intendant zwanghaft jüdische Witze erzählt.

Adriana Altaras schreibt wie ein Wasserfall, aber das ist ein Kniff, um ein wenig Chaos zu stiften. In Wahrheit ist "Die jüdische Souffleuse" eine geradezu klassisch gebaute Geschichte, nicht einmal die captatio benevolentiae fehlt, das in der Rhetorik vorgeschriebene Werben um Aufmerksamkeit, bevor die Story beginnt. Allerdings handelt es sich dabei um ein großes Haareraufen. Die Erzählerin Adriana will gar nicht mehr erzählen. Sie hat genug, Schluss, aus, nur ein einziges Mal noch will sie es hier tun, als Gefälligkeit für einen Freund. "Nein, nein, nein" wäre als Titel für dieses Buch sicher ebenfalls gerechtfertigt gewesen, nur würde natürlich kein Verleger ein Buch so nennen. Und außerdem heißt hier, sorry Leute, Nein eben nicht Nein.

Denn da gibt es jemanden, der keine Weigerung zulässt: Die Souffleuse Susanne, die lieber jiddisch Sissele genannt werden möchte und beim Frühstück Prosecco trinkt, fordert Aufmerksamkeit. Wenn Frauen um die Sechzig noch so eine Figur hätten, dürfe man ihnen kein Wort glauben, findet Adrianas Freundin Nora. Sissele bringt Adriana dazu, sich ihre Geschichte anzuhören, das ganze Elend eines kleinen Mädchens im Holocaust, bis das große Heulen kommt, nämlich bei Adriana: "Nicht sie weint, sondern ich". Aber den Job, Sissele bei der Suche nach ihrer Familie zu helfen, lehnt sie ab. Beleidigt wie ein kapriziöses Gespenst verschwindet Sissele erst mal.

Man hätte es ahnen können. Denn mitten in der grollenden Vorrede des Buches ist doch plötzlich vom großen gottsuchenden Existenzialisten Isaac Bashevis Singer die Rede, Idol der Erzählerin - geboren 1902 als Sohn eines Rabbiners in Leoncin, Polen, gestorben 1991 als Literaturnobelpreisträger in Surfside, Florida. Fast beiläufig fällt der Name, aber natürlich verbindet er alles, was danach kommt, mit dem Grundthema der Romane und Erzählungen Singers - jener versehrten von Osten weit nach Westen verschlagenen Exilantengeneration, die niemals nur in der Gegenwart leben kann.

Dramaqueen Adriana hilft Sissele natürlich doch noch, die sich fortan als ihre Souffleuse der Erinnerung erweist. Sie gehen auf die Reise, sie forschen in Theresienstadt und Mauthausen. Und erstaunlicherweise gibt es ein Happy End. Oder?

Hinter Adriana Altaras Fähigkeit, mit Todtraurigem witzig umzugehen, steht etwas Fragendes: Ist es für die Nachgeborenen möglich, für sich selbst zu leben und den Holocaust mit seinen Folgen hinter sich zu lassen? Im Theater vielleicht? Oder auf Island, wo Sissele, Robbi aus Israel und die Erzählerin dank einer wahrhaft opernhaften Wendung am Ende festsitzen? Es gibt dort heiße Quellen. Wale. Schnee. "Wir waren ein bisschen verloren, aber nicht unglücklich", heißt es im Buch. Es ist - und das muss man wohl als vorläufige Bilanz lesen - keine eindeutige Antwort.

Adriana Altaras: Die jüdische Souffleuse. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018. 202 Seiten, 20 Euro.

© SZ vom 27.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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