Richard Russo: Diese alte Sehnsucht:Tod im Kopf

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Jack Griffin sitzt in der Falle, er hat das Gefühl die Fehler seiner geschiedenen Eltern zu wiederholen. "Diese alte Sehnsucht" ist manchmal etwas dick aufgetragen - aber oft amüsant.

Ulrich Baron

Mit seinem Romanhelden Jack Griffin hat der 1949 im US-Bundesstaat New York geborene Richard Russo einen Vertreter seiner eigenen Altersklasse porträtiert. Die sitzt nicht nur literaturgeschichtlich zwischen Baum und Borke, zwischen der Generation also eines John Updike (1932-2009) und der eines Jonathan Franzen (Jahrgang 1959). Auch soziologisch betrachtet gehört Russos Held einer Sandwich-Generation an, kann also von der Freiheit, die Franzens jüngster Romantitel so plakativ wie ironisch heraufbeschwört, nur träumen.

Subtil und unterhaltsam zugleich widmet sich "Diese alte Sehnsucht" dem langen Abschied von den Eltern, den der demographische Wandel längst weit über die Mitte des Lebens hinaus verschoben hat. (Foto: dpa)

Und nicht einmal solche Träume gehören ihm ganz selbst, sondern zählen zum elterlichen Erbe, vor dem es kein Entkommen zu geben scheint. Jack Griffin hat den größten Teil seines Lebens als Sohn verbracht. Noch als Mittfünfziger und Vater einer inzwischen erwachsenen Tochter hat er den Eindruck, die Fehler seiner geschiedenen Eltern zu wiederholen. Zwei Hochzeiten und ein Todesfall bieten ihm nun Gelegenheit, sich diesem Problem zu widmen und um ein Haar auch die eigene Ehe zu ruinieren.

Beide Feiern führen ihn nach Cape Cod und auf vertraute Geleise. Das Sylt Neuenglands war der Sehnsuchtsort seiner Eltern. Immer wenn sie auf dem Weg ins gemietete Sommerquartier die Sagamore Bridge überquerten, hatten sie ihre Version des Songs "That Old Black Magic" angestimmt. Ihr "That Old Cape Magic" ist der Titel der amerikanischen Originalausgabe, und diese Magie hält auch Griffin in ihrem Bann. Darin schwingt Sehnsucht mit, aber auch Schwarzer Zauber und Wiederholungszwang.

Wie seine Eltern, deren Traum von einer bezahlbaren Immobilie auf Cape Cod nie verwirklicht wurde, fühlte auch Griffin sich zwischen ihren Mantras gefangen, von denen das eine "können wir uns nicht leisten" lautete und das andere "möchte ich nicht geschenkt haben". Zwar hat er sich, getrieben von seiner Frau Joy, vom Drehbuchautor in Hollywood zum Professor und Landhausbesitzer im Nordosten der USA entwickelt, doch erscheint er, wie sein ehemaliger Co-Autor Tommy es ausdrückt, als "kongenital unglücklich".

Erfahren Sie auf Seite 2, ob der Verfall einer Familie abgewendet werden kann.

Ob angeborenen oder anerzogen - Griffins Unzufriedenheit spiegelt das Schicksal seiner Eltern wider. Deren akademische Karrieren waren im "Scheiß-Mittelwesten" versandet, weil beide zwar attraktive Angebote erhalten hatten, doch leider nie am selben Ort. Ihre Urlaube am Cape waren nicht nur die Entschädigung für elf Monate Unzufriedenheit, sondern zählten auch zu deren Ursachen: Ein alljährlicher Vorgeschmack von etwas, das zu erreichen sie sich nicht trauten.

Absurditäten des Alltags

Während seine Frau einen "natürlichen Hang zur Zufriedenheit" besitzt, träumt Jack von einer zweiten Karriere als Autor. Zu beiden Hochzeiten reist er ohne Joy an. Bei der ersten hat er sich gerade mit ihr gestritten, bei der zweiten schon von ihr getrennt, während die Urnen seiner Eltern inzwischen im Kofferraum seines Wagens vereint sind. Zur schwarzen Magie kommt schwarzer Humor hinzu. Saß Griffins Mutter ihm bei der ersten Reise noch per Handy im Nacken, so begleitet ihn ihre Stimme nach ihrem Tod im Kopf und legt ihm bisweilen Sätze in den Mund, die besser unausgesprochen geblieben wären. Zum Zauber Cape Cods gesellt sich ein Geisterfest der Erinnerungen und inneren Stimmen.

Wenn dann das Verstreuen der Asche des Vaters grotesk misslingt, weil dessen Furcht vor heimtückischen Unterströmungen sich posthum bestätigt, wenn bei einer Hochzeitsprobe die Rampe zusammenbricht und Dutzende von Gästen in einer Eibenhecke landen, kippt die Handlung ins Komödiantische. Und kann sich schwer daraus lösen. Genüsslich schaut der Erzähler auf die Verheerungen zurück, die Griffins Eltern als akademische Mietnomaden hinterlassen haben.

Das ist manchmal zu dick aufgetragen, gibt aber die Absurditäten eines Alltags wieder, in dem nicht jeder Wortbeitrag literarisches Niveau erreicht und wo selbst das Tragische peinlich wird, wenn das Alter ins Spiel kommt. Subtil und amüsant zugleich widmet sich "Diese alte Sehnsucht" dem langen Abschied von den Eltern, den der demographische Wandel längst weit über die Mitte des Lebens hinaus verschoben hat. Auf den Spuren, die deren Leben in seinem hinterlassen haben, findet Jack Griffin am Ende zu sich selbst und zu etwas mehr Gelassenheit.

Der Verfall einer Familie kann hier also noch mal abgewendet werden, und Griffins Lebensdrama endet mit einer komödiantischen Schlussszene. Über Russos bürgerlichem Helden schwebt am Ende kein Damoklesschwert, sondern eine Möwe - immerhin Angehörige einer Spezies, deren schändliches Tun Griffins Kleidung hier schon einmal besudelt hatte. Man kann das als ironische Anspielung auf Henry James' Erzählung "The Beast in the Jungle" sehen, deren Held sein Leben in angstvoller Erwartung eines katastrophalen Schicksalsschlages vertut.

Jack Griffin aber zählt nicht zu den Gestalten, mit denen das Schicksal noch Großes oder gar Schreckliches vorhat: "Griffin sah misstrauisch auf, aber es war nur ein blöder Vogel, der im nächsten Augenblick, ohne Schaden angerichtet zu haben, davonflog." Das ist für einen Roman über so ein gewichtiges Thema ein ebenso eleganter wie unsentimentaler Abschluss.

RICHARD RUSSO: Diese alte Sehnsucht. Roman. Aus dem Englischen von Dirk von Gunsteren. DuMont Verlag, Köln 2010. 351 Seiten, 19,95 Euro.

© SZ vom 07.01.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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