Richard-Gerstl-Ausstellung in Wien :Kerle wie wir

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Eigensinnig, visionär, verzweifelt: Das Wiener Leopold-Museum zeigt Bilder des tragisch verkannten österreichischen Malers Richard Gerstl, der die Frau Arnold Schönbergs liebte und Werke "zwischen Werden und Zerstören" schuf.

Von Catrin Lorch

Der Maler Richard Gerstl verschwand so aus der Welt, wie er gelebt und gearbeitet hatte. Unbemerkt. Dabei hätte der Selbstmord des erst 25-Jährigen sogar im Wien des Jahres 1908 genauso zum Skandal gereicht wie seine Bilder, die damals allerdings kaum einer gesehen hatte. Dass der Skandal ausblieb, lag daran, dass alle Beteiligten sich schnell auf Stillschweigen einigten. "Kränkung über Misserfolg" war die Formel, die der Komponist Arnold Schönberg prägte. In einem Brief an den Bruder des Künstlers schrieb Schönberg, er befürchte, dass "die Öffentlichkeit sonst der Sensationslust die Zügel schießen lässt" und er selbst, "unschuldig daran", lächerlich gemacht werde.

Arnold Schönberg machte sich zu Recht Sorgen, denn Richard Gerstl hatte eine Affäre mit dessen Frau Mathilde gehabt. Und obwohl das Paar vom Gatten erwischt worden war und dieser schließlich erreichte, dass sie zu ihrer Familie zurückkehrte, hatte sie dem Maler wohl doch noch wenige Tage vor seinem Tod im Atelier Modell gesessen. Richard Gerstl sollte dann den Novembertag nicht überleben, an dem sich alle seine Freunde und Weggefährten zu einem Konzert Schönbergs trafen, zu dem er nicht mehr eingeladen worden war.

Er hatte eine Affäre mit der Frau von Arnold Schönberg. Der plante gemeinsame Urlaube

Der junge Künstler hatte einige Jahre lang fest zum sogenannten Schönberg-Kreis gehört und sogar zweimal die Sommermonate mit der Familie und den Freunden des Komponisten am Traunsee verbracht. Die Nähe zur Wiener Avantgarde hatte sich der im Jahr 1883 dort geborene Gerstl selbst erarbeitet. Er stammte aus der Familie eines zugezogenen jüdischen Börsenmaklers, der nicht glücklich über die Berufung seines jüngsten Sohns war, ihn aber zeitlebens unterstützte, nachdem der schon im Alter von 15 Jahren an der Akademie aufgenommen worden war.

Gerstl war vielseitig begabt, interessierte sich für Neurologie, Fremdsprachen, Literatur, Psychologie, Theater und Musik, doch in diesem konservativen Umfeld fiel das nicht eben positiv auf. Nachdem er im Jahr 1900 seine Ausbildung abgebrochen und sich in einer Künstlerkolonie in Siebenbürgen mit Landschaftsmalerei beschäftigt hatte, wechselte er auf Einladung eines Professors in die "Systematische Specialschule für Landschaftsmalerei", wobei er auf einem eigenen Atelier bestand.

Der wortkarge, schlaksige Gerstl griff jedoch bald Lehrer an, die sich an der Gestaltung von kaiserlichen Festzügen beteiligten, und war angeblich sogar so arrogant, Ausstellungen in Galerien abzusagen, die gleichzeitig Werke des berühmten Gustav Klimt zeigen wollten. Belegt ist Gerstls bizarrer Streit um eine Entschädigung, die er vom Ministerium für Cultus und Unterricht einforderte, weil keins seiner Bilder in einer Schulausstellung gezeigt wurde: "Durch das Nichtausstellen meiner Bilder", so schrieb er in einem aufgebrachten Brief, "war ich von der Concurrenz um den Specialschulpreis ausgeschlossen".

Richard Gerstls "Selbstbildnis als Halbakt" aus den Jahren 1902/04 zeigt den Maler in Erlöserpose. (Foto: Leopold Museum, Wien | Vienna/Manfred Thumberger)

Der kompromisslose Avantgardist fand allerdings Anschluss in der Musik-Szene - schon 1907 lud ihn das Ehepaar Schönberg nach Gmunden am Traunsee ein, wo der Künstler dem Komponisten das Malen beibrachte. Während Schönberg sein Zweites Streichquartett vollendete, beschäftigte sich Gerstl nicht nur mit kleinformatigen, abstrahierenden Freiluftgemälden. Tochter Trudi berichtete dem Vater, dass "der junge Mann die Mutter küsse". Schönberg aber lag so viel an der Freundschaft, dass er in einem Brief schrieb: "Zwei Kerle wie wir dürfen sich nicht entfremden." Und ein Jahr später erneut eine gemeinsame Sommerfrische plante.

Die Ferien sollten mit der Flucht des Paares nach Wien enden, nachdem die Fortsetzung ihrer Affäre aufgeflogen war. Doch Mathilde, Mutter von zwei kleinen Kindern, kehrte zu ihrem Mann zurück. Schönberg wiederum wollte sich zunächst auch das Leben nehmen, komponierte stattdessen aber sein Zweites Streichquartett. Die Leinwände und Skizzen, die Alois Gerstl dagegen beim Tod seines Bruders im Atelier vorfand, wurden von der ratlosen Familie einer Spedition übergeben.

Vielleicht war es ein Glück, dass die Angehörigen nicht schon im Jahr 1908 bei Experten Rat suchten, sondern das Werk geschlossen eingelagert wurde. Womöglich hätte niemand erkannt, wie außergewöhnlich, wie eigenständig und vorwärtsweisend es war. Dass Alois Gerstl dann Skrupel hatte, die Gemälde und Zeichenblöcke einfach zu entsorgen, um die Kosten für das Lager einzusparen, wurde zu einem Schicksalsmoment für die Kunstgeschichte. Der Experte, dem er die verstaubten, schmutzigen, teilweise zerknickten und zerschnittenen Bilder zeigte, war Otto Kallir, ein mit der Wiener Moderne vertrauter Galerist, der so beeindruckt war, dass er sich entschloss, "den Namen dieses Künstlers der Vergangenheit zu entreißen".

Er stand vor einem rohen Werk, zu dem viele gleichermaßen ungehobelte Selbstporträts gehörten. Knapp zwanzigjährig hatte sich Richard Gerstl nur mit einem Lendentuch bekleidet als Halbakt vor blauem Hintergrund gemalt, ein zarter, sehr warm getönter Oberkörper hebt sich - wie der Erlöser in der christlichen Ikonografie - in einem hellen Lichtschein vom Blau ab. Das verstörend direkte "Selbstbildnis, lachend" (1908) zeigt hingegen ein breit lachendes Jungengesicht mit roter, knubbeliger Nase über einem ungeschönt langen Hals, der Hintergrund leuchtet in hellgoldenen, euphorischen Tupfen.

Als würde die weiße Farbe sich selbstständig ausbreiten: "Die Schwestern Karoline und Pauline Fey" , 1905. (Foto: Belvedere, Wien | Vienna)

Daneben gibt es unzählige Landschaften, die sich in heftigen Pinselschwüngen auflösen, Gärten, die in Grüntönen zerfließen und immer wieder der Traunsee: "Schlafende Griechin", gemalt im Jahr 1907, besteht aus ein paar kräftigen Farbschlieren, die das Felsmassiv aus Grau und Braun zusammenbacken, während die wellige Oberfläche des Sees aus nichts als Liniengekräusel besteht. Darüber hängt weiches Graublau, der Himmel. Gerstl habe "gezielt verlernt", was er sich an der Akademie angeeignet habe, bis sein Werk "in der Schwebe zwischen Werden und Zerstören" ein "destabilisierendes Außer-sich-Sein" erreiche, schreibt Hans-Peter Wipplinger im Katalog. Das trifft zu, denn Ausdrücke wie "expressionistisch" oder "surreal" waren ja noch nicht geprägt, als Gerstl starb.

Seine erste Ausstellung hatte er 1931, Jahre nach seinem Tod. Sie begründete einen Mythos

Dass viele der Porträts der Wiener Gesellschaft beim Tod des Künstlers im Atelier verblieben waren, zeigt, dass sie keine Auftragswerke waren. Das eigentümlichste ist wohl das Doppelbild der "Schwestern Fey" (1901), für das Gerstl die beiden jungen Damen in ihren weißen, weiten Kleidern so nebeneinander setzte, dass sie zu einem Körper werden. Es ist offensichtlich, dass Édouard Manets elegante "Dame mit Fächer (Jeann Duval)" aus dem Jahr 1862 sichtbar das Vorbild war, auf dem das Weiß sich eigenständig auszubreiten scheint. Die Auflösung der Konturen wird durch einen fast willkürlich gesetzten, dunklen Pinselhieb noch hervorgehoben.

Der Galerist Otto Kallir kaufte auf der Stelle 34 Gemälde, restaurierte sie, und seine Ausstellung "Richard Gerstl - ein Malerschicksal" begründete 1931 einen Mythos. Die Ausstellung wanderte nach München, Berlin und Aachen, wo sie noch kurz vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten gezeigt wurde. Kallir war Jude und emigrierte nach New York, wo er nach dem Krieg zu einem engagierten Vermittler österreichischer Kunst wurde. Doch erst seit den Achtzigern, vor allem im Zusammenhang der Ausstellungen, die das Wien der Jahrhundertwende feierten, schaffte es Gerstl in den Kanon der Kunstgeschichte.

Die Ausstellung im Wiener Leopold-Museum, das einen großen Teil des Œuvres besitzt, ist nicht nur umfangreiche Retrospektive - wie es auch die sehenswerte Schau vor zwei Jahren in der Frankfurter Schirn war -, sondern zeigt auch die Spuren, die er dann doch noch in der Kunst hinterließ. Vor allem die österreichische Szene hielt ihn als Schlüsselfigur in Ehren, die Maler der Nachkriegszeit bis hin zu den Aktionisten ließen sich von ihm inspirieren.

Besonders die Gemälde, in denen sich die tragische Geschichte des eigensinnigen, verzweifelten jungen Genies offenbarte, blieben unübertroffen. Das "Gruppenbild mit Schönberg" beispielsweise, das im Todesjahr des Künstlers entstand. Familie und Freunde, bis zur Unkenntlichkeit abstrahiert, sind auf dem großformatigen, sommerlich kolorierten Bild aufgestellt. Doch eine überhelle Zone auf dem gelben Fond zeigt, dass jemand fehlt - die Leerstelle hält ihm den Platz frei. "Als Richard Gerstl die Familie Arnold Schönberg malte, wurde das kein Bild, sondern eine Explosion", schrieb Fritz Wotruba Jahrzehnte später, "aber sie erfolgte in Österreich und daher war sie unhörbar und bis jetzt eigentlich auch unsichtbar." Das hat sich geändert. Die Schallwellen und das Licht breiten sich bis heute aus.

Richard Gerstl. Inspiration - Vermächtnis. Leopold Museum, Wien. Bis 20.01. Katalog: 34,80 Euro.

© SZ vom 04.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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