Retrokolumne:Metal Box

Lesezeit: 3 min

Er wollte nie das tun, was man von ihm erwartete, und landete damit gar im britischen Dschungelcamp: Johnny Lydon, der sich bei den "Sex Pistols" Johnny Rotten nannte. Jetzt sind seine großen Alben neu heraus, zum Beispiel "Metal Box". Hat er damit den Rock neu erfunden?

Von Max Fellmann

Eigentlich ist er ein ganz schöner Depp. Und gleichzeitig ein echter Revolutionär. Also eine ideale Popfigur. Wenn John Lydon Interviews gibt, schneidet er Grimassen und fängt jeden zweiten Satz so an, als komme jetzt eine große garstige Wahrheit, dann plappert er doch nur halbprovokantes Zeug daher, Sätze, mit denen er vielleicht aufregen konnte vor 40 Jahren, als er sich Johnny Rotten nannte und bei den Sex Pistols am Mikrofon rumzuckte. Das ist ewig her, seitdem hat er viele Haken geschlagen, war Teilnehmer der englischen Version von "Ich bin ein Star, holt mich hier raus" und Werbeträger für Butter (ja, Butter). Bei all dem übersieht man leicht, wie ambitioniert der Mann im Grunde war. Und vielleicht immer noch ist. Er wollte nie das tun, was man von ihm erwartet (und wer hätte Dschungelcamp und Butterreklame erwartet?). Schon nach dem Ende der Sex Pistols 1978: Lydon machte nicht einfach weiter mit der nächsten Punkband, sondern dachte sich ein höchst artifizielles, düsteres, fast theaterreifes Projekt aus: Public Image Limited. PiL. Mit kleinem i. So weit weg von Punkrock wie nur möglich. Schließlich hatte er selbst behauptet, das oberste Ziel der Sex Pistols sei die Abschaffung des Rock gewesen. Lydon wollte weg auch von der Idee des klassischen Albums, das zweite PiL-Album "Metal Box" erschien 1979 in Form von drei Singles in einer Filmdose. Der Hörer sollte jedes Mal neu entscheiden beziehungsweise den Zufall entscheiden lassen, in welcher Reihenfolge er die Stücke hört.

Jetzt ist "Metal Box" als 4-CD-Box erhältlich, eine "Super"- und "Deluxe"-Ausgabe, ohne solche Schlagwörter kommt ja keine Wiederveröffentlichung aus, diesmal in einer quadratischen Dose. Mit Demo-Versionen, Live-Aufnahmen, 72-Seiten-Booklet, Poster und Postkarten (es gibt auch eine LP-Version mit beigelegten Kunstdru-cken). Das US-Magazin Pitchfork bejubelte die Wiederveröffentlichung mit der Behauptung, "Metal Box" sei ein nahezu perfektes Album, es habe Rock völlig neu erfunden. Hoch gegriffen, aber ja - es ist schon eine eigene Welt, die sich da hinter den Metalldeckeln auftut. Hier zickige Disco-Beats, da schwer rollender Dub, Bässe, die klingen wie schwingende Gummiseile, über allem ein merkwürdiger Gitarrennebel, dazu nervenzersägendes Brummen, Sirren, Kreischen, der Sound rostender Industrieanlagen. Und immer wieder diese Sirenenstimme, Lydons einmalig manisches Quaken. Endzeitmusik. Kurz zuvor hatte Lydon mit den Sex Pistols noch "No Future" getrötet, aber die Songs waren im Grunde rotzlauter, schöner, altmodischer Rock 'n' Roll - das hier war tatsächlich der Klang einer Welt ohne Zukunft.

Aber weil Lydon auch vom Nihilismus bald wieder die Nase voll hatte, folgte 1986 das PiL-Album "Album", jetzt wieder als Luxus-4-CD-Box erhältlich, damals auch als "Compact Disc" und "Cassette". Kein eigener Titel, nur jeweils der Verweis auf das Produkt, auf das inhaltslose Transportmittel der Musik. Die vorgebliche Verweigerung jeglichen Pop-Appeals. Aber plötzlich spielte Lydon mit Menschen zusammen, die er eigentlich als natürliche Feinde hätte betrachten müssen. Sollte man meinen. Am Schlagzeug saß unter anderem Ginger Baker, der Mann, der mit Eric Clapton bei Cream gespielt hatte, alter Bluesrock-Adel also. Noch schlimmer: Die Gitarren-Parts übernahm großteils Steve Vai, der vielleicht virtuoseste aller Gitarrenvirtuosen, bekannt geworden als Wunderkind an der Seite von Frank Zappa. Der zeigte, wie man mit unfassbarer Technik 397 Noten in einen Takt kriegt, Baker hämmerte auf sein Schlagzeug ein, bis es klang wie eine Arme marschierender Zombie-Soldaten, und John Lydon sirente und quäkte darüber seine Hasstiraden, seine Rachefantasien, seine Enttäuschungsschreie. Und wieder hatte er völlig recht: Das war neu, das war anders. Wobei "Album" - absurd und genau deshalb völlig logisch - auch die erfolgreichste PiL-Single abwarf, der Song "Rise" schaffte es in England auf Platz 11. "Rise" hatte tatsächlich so etwas wie eine Refrainmelodie, und die Gitarren mit ihrem sanften Echo erinnerten von Ferne an U2 (hoffentlich kann Lydon kein Deutsch und liest nicht zufällig die Süddeutsche Zeitung). Aufgenommen wurde das Album in New York, produziert von Bill Laswell. Lydon erzählte später, während der Aufnahmen sei zufällig der Saxofonist Ornette Coleman ins Studio gekommen, er hörte ein wenig zu und sagte dann, Lydon singe so, wie er Saxofon spiele. "Das war das Beste, was je einer zu mir gesagt hat." Übrigens enthält die Deluxe-Version von "Album" neben Live-Aufnahmen und Demos auch ein Zuckerl, das man fast vergessen hatte: "World Destruction" in zwei Versionen. Das Stück hat Lydon damals mit dem Hip-Hop-DJ Afrika Bambaataa aufgenommen. Von Punk über Endzeit zu Ginger Baker und weiter zum Hip-Hop. So widersprüchlich und doch so stimmig. Vielleicht ist John Lydon einfach doch der aufgeschlossenste Altpunk der Welt.

© SZ vom 08.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: