Residenztheater:Im Räderwerk der Macht

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In München eröffnet eine bombastische, umwerfende Inszenierung von Schillers "Räubern" die Saison - und der Intendant zieht sich mit einem Sartre-Stück auf die Nebenbühne zurück.

Von Christine Dössel

Die neue Spielzeit am Münchner Residenztheater soll eine dezidiert politische sein. "Macht braucht Zeugen" steht in großen Lettern auf der Resi-Fassade: das Motto der Saison. Was schon insofern gut passt - aber auch unfreiwillig komisch ist -, als die aktuelle Debatte über die Machtverhältnisse an deutschen Theatern maßgeblich der Schauspieler Shenja Lacher mitangestoßen hat. Der ist als Resi-Protagonist einer der Hauptzeugen für die Macht des Intendanten Martin Kušej, die dieser an seinem Theater offenbar so autoritär und rüde ausübt, dass Lacher sein Engagement kündigte und über die "fast noch feudalistischen" Strukturen am Haus ein viel beachtetes Interview gab.

Seinen künstlerischen Beitrag zum Thema Macht und Moral lieferte Kušej nun zur Spielzeiteröffnung mit Jean-Paul Sartres 1948 uraufgeführtem Politdrama "Die schmutzigen Hände" im kleinen, rokokofeinen Cuvilliéstheater. Der sonst eher nicht so bescheidene Intendant nahm sich in diesem Fall zurück und überließ den eigentlichen Auftakt im angrenzenden großen Haus dem Gastregisseur und München-Debütanten Ulrich Rasche. Dessen gigantomanische Inszenierung von Friedrich Schillers Jugendstück "Die Räuber" wurde vom Residenztheater schon im Vorfeld als "aufsehenerregend" und "spektakulär" angekündigt. Das ist zwar Eigenlob, aber man kann das so stehen lassen.

Rasches "Räuber"-Unternehmung ist tatsächlich eine Schau. Sie ragt so steil und gesamtkunstwerklich kühn aus dem Normalspielbetrieb heraus, dass man erst mal staunen und sich dann dazu verhalten muss. Love it or hate it. Fühle dich gefühlsmanipuliert, geplättet, erschlagen - oder von Schillers Versen auf Wort- und Maschinenwalzen "hehr" getragen: Diese Arbeit fordert heraus. Sie lässt einen nicht kalt.

Selbst diejenigen, die bei der Premiere entnervt flüchteten und nach der Pause sichtbare Lücken im Parkett hinterließen, dürften daheim etwas zu erzählen haben: von aufmarschierenden Sprechchören, wie man sie seit den Zeiten von Einar Schleef - der Theatergott hab' ihn selig - so rhythmisch-bombastisch und männlich-martialisch nicht mehr gesehen hat. Von einer live gespielten, das Geschehen minimalistisch grundierenden, hypnotisch einlullenden, dann wieder pathetisch anschwellenden Musik, die klingt, als hätten John Cage, Steve Reich und Michael Nyman sie gemeinsam ersonnen - aber nein, der Komponist des Abends ist: Ari Benjamin Meyers.

Auch die, die aus dem Theater nach der Pause flüchteten, haben etwas zu erzählen

Und dann muss man natürlich von diesem Bühnenungetüm erzählen, bestehend aus zwei kolossalen Laufbändern, deren maschineller Unterbau die Dinger wie Panzer aussehen lässt. Ausgerüstet mit Elektromotoren und aufwendiger Hydraulik können sich diese Förderband-Maschinen heben und senken. Sie werden von der Drehbühne in immer neue Positionen gerückt und zwingen den darauf marschierenden, laut deklamierenden Menschen die Laufrichtung auf. Ein Jahr lang hat die Resi-Technik an dieser (von Rasche selbst entworfenen) Konstruktion gebaut.

Titanisches Beeindruckungs- und Überwältigungstheater also, wuchtvoll, humorfrei, gewaltig gestählt. Einerseits. Andererseits begnügt sich Rasches Monumentaltheater nicht mit der Zurschaustellung seiner technoiden Muckis, sondern zelebriert schier feierlich die Sprache und will schon auch wirklich was erzählen, nämlich: die Geschichte zweier Brüder, von denen der eine, Franz, sich zum Maß aller Dinge und damit radikalindividualistisch über die Gesetze erhebt, und der andere, Karl , die geltenden Gesetze gesellschaftsrebellisch als Hauptmann einer Räuberbande bricht. Ein konkretes politisches Ziel hat dieser Zusammenschluss von Aufständischen nicht, er entsteht erst nach einer Intrige der "Kanaille" Franz gegen Karl, woraufhin sich dieser, sich von seinem Vater verstoßen wähnend, radikalisiert. Rasche legt seinen Räubern Sätze aus dem Manifest "Der kommende Aufstand" in den Mund, also Sätze jenes anonymen "Unsichtbaren Komitees", das unsere spätkapitalistische Gesellschaft als krank, heimat- und ortlos beschreibt und zu ihrer Überwindung aufruft: "Die Katastrophe ist nicht das, was kommt, sondern das, was da ist."

Wie aus einem diffusen Unbehagen eine - pseudopolitische - Bewegung entsteht, mit Sogwirkung und Mitmachdruck, das zeigt Rasches Inszenierung in großen, eindrucksvollen Bildern. Es sind düstere Bilder von existenzialistischer Wucht. Schon die Kostüme von Heidi Hackl zeichnen diese Räuber nicht als räudige Böhmerwaldbande, sondern als Armee, uniformiert mit schwarzen Hemden, Hosen, Lederstiefeln, um die Hüften Gurte, die wie Wamse aussehen. Wie der schneidend kalte Spiegelberg (stark: Thomas Lettow) den Scharfmacher gibt, wie Franz Pätzolds anfangs unsicherer Karl verzweiflungsfatalistisch einstimmt, wie dann immer mehr Räuber aufmarschieren und chorisch skandieren, wie sie auf den Superfitnessbändern permanent vorwärts laufen und doch nicht von der Stelle kommen, wie eindringlich sie den Überfall auf das Kloster schildern - das hat etwas Hochdramatisches, auch Hochpathetisches. Der Mensch in seiner Dauerbewegung befindet sich hier buchstäblich im Räderwerk einer Maschinerie, die er selber nicht (mehr) im Griff hat.

In manchen Szenen sind die Akteure zur Absicherung an Seilen befestigt, dadurch wirken sie wie Sklaven. Dass trotzdem kein unangenehmer Eindruck von Totalitärtheater aufkommt, liegt daran, dass immer wieder Einzelne aus dem Kollektiv heraus Profil gewinnen. Wenn der in die Irre gegangene Karl Moor in einem großartigen Lebensmonolog wieder zu sich kommt, ist das bewegend: "Ich bin mein Himmel und meine Hölle." Der famose Franz Pätzold macht aus der Szene einen der Höhepunkte des fast vierstündigen Abends.

Den Ego-Shooter Franz mit einer Frau zu besetzen ist in diesem augenfälligen Männertheater ein guter Griff. Valery Tscheplanowa holt mit tiefster Inbrunst mal wieder das Unterste aus ihrer Seele heraus und spielt den hier gar nicht so alten, aber blässlichen Vater Moor (Götz Schulte) locker aus. Eine Wahnsinns-Schauspielerin. Sternenklar lässt sie Schillers Verse funkeln. Aber auch Nora Buzalka als Karls aufrechte Verlobte Amalia ist bezwingend. Bis auf den Moment, da sie plötzlich die Hüllen fallen lässt, als Franz sie bedrängt. Der nackte Frauenkörper, ausgestellt im fahlen Licht, gehört zu jenen Effekten, die dann doch eher der Optik als der Dramatik geschuldet sind. Ausgestellt wirkt so manches in diesem Frontaltheater. Und, auch das muss gesagt werden, es schrammt mitunter durchaus die Grenze zum Kitsch, vor allem gesangsmusikalisch. Und doch: ein Ereignis, dieser Abend! Die Inszenierung ist in ihren Aufmärschen, Abläufen, Crescendi und Dynamikzyklen so präzise komponiert, dass man von einer Oper sprechen muss. Einer großen Lauf- und Mundwerkoper. Dafür gab es tosenden Applaus.

Normalerweise ist es Martin Kušej selber, der solche Kraftinszenierungen auf die Bühne stemmt, nur sind sie bei ihm nicht so formstreng stilisiert und rhythmisiert. Aber kalt, düster und ausweglos, das sind sie schon. So wie nun auch seine Interpretation der "Schmutzigen Hände". Keinen Funken Hoffnung oder wenigstens Erotik gibt es darin, obwohl es bei Sartre auch um Verführbarkeit und Verführung geht neben der Frage, ob und wann ein politischer Mord gerechtfertigt sein könnte.

Die Inszenierung zielt von vornherein gnadenlos und ziemlich eindeutig auf die Raubtiernatur des Menschen. Deshalb hat Kušej sich von seinem Ausstatter Stefan Hageneier einen riesigen Käfig auf die Bühne des Cuvilliéstheaters bauen lassen. Vielleicht ist es auch ein Gefängnis. Das bei jedem Szenenwechsel sichtbare Drumherum deutet einen Sicherheitstrakt an. Oder einen Folterkeller. Jedenfalls spielen die Schauspieler die ganze Zeit hinter Gittern - was den distanzierenden Effekt einer vierten Wand hat. Der ganze Abend, so ruhig und klar er auch inszeniert ist, bleibt auf Abstand. Warm wird man damit nicht.

Aber man sieht den Schauspielern ganz gerne zu und folgt, so rational wie ungerührt, der finalen Tötungslogik, die Sartre in messerscharfen Sätzen entfaltet. Christian Erdt, neu im Ensemble, gibt hübsch fahrig und neurotisch den jungen Intellektuellen Hugo, der das Bürgersöhnchen in sich überwinden und in seiner Partei - er ist bei den Kommunisten, aber es könnte bei Kušej auch eine Terrororganisation sein - endlich eine Tat begehen will. Die Genossen Louis (Michele Cuciuffo) und Olga (Anna Graenzer) geben Hugo den Auftrag, den hohen Funktionär Hoederer zu töten. Zu diesem Zweck wird er samt seiner Frau Jessica bei Hoederer als Sekretär eingeschleust. Aber dann verliebt sich Hugo in Hoederer, und er tötet ihn erst, als er diesen beim Kuss mit Jessica erwischt - ein banaler Mord im Affekt, der am Ende der Partei auch noch ungelegen ist.

Kušej erzählt das alles mit nüchternem Aplomb. Hoederer, bei Sartre ein genussfroher Charismatiker, ist bei Norman Hacker ein zwielichtiger Machtmensch mit Bandenchef-Gebaren. Erst im späteren Disput erfährt man, dass er als Vernunft- und Realpolitiker einer von den Guten ist. Lisa Wagner ist als Jessica für den Humor zuständig und hat einige schöne Sätze. Die spricht sie mit rotzig-trotziger Coolness, extra-dry, tut ansonsten aber unbeteiligt. Ein seltsam emotionsloser Abend hinter Gittern. Es ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und dahinter: nur eine modellhafte Welt.

© SZ vom 26.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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