Wird die Rechnung noch kommen? Bislang hat Polen keine Zahlen genannt, was Deutschland für Mord und Zerstörung im Zweiten Weltkrieg schuldig ist. Die PiS-Regierung hat dieses Thema aber bereits vor einiger Zeit für sich entdeckt und hält es am Köcheln - zuletzt, als sie im Sommer beim Gedenken an den Warschauer Aufstand 1944 und den Kriegsbeginn 1939 darauf hinwies. Und im Parlament arbeitet seit 2017 eine Kommission daran, zu einer offiziellen, definitiven Summe zu kommen. Spekulationen reichen von 800 Milliarden Euro bis hin zu mehr als zwei Billionen. Hierzulande herrscht noch die Meinung vor, dass es sich bei all dem um rein innenpolitische Stimmungsmache handle, zumal es keine legale Grundlage für irgendwelche Forderungen gebe.
Karl Heinz Roth und Hartmut Rübner kritisieren diese Auffassung in ihrer neuen Studie als juristisch unbegründet und geschichtspolitisch verantwortungslos. Nach Rücksprache mit dem Völkerrechtler Andreas Fischer-Lescano machen sie deutlich, dass Deutschlands Nachbar durchaus Reparationen einfordern könne. Zwar habe die Volksrepublik Polen 1953 darauf verzichtet, aber nur gegenüber der DDR und explizit nicht gegenüber Deutschland. 1990, bei der Wiedervereinigung, sei der Zwei-plus-Vier-Vertrag ausdrücklich nicht als Friedensvertrag bezeichnet worden, mit dem allein das Thema hätte abgeschlossen werden können. Und zwischenstaatliches Recht kenne keine Verjährungsfristen.
Abschließend wird sich dergleichen wohl nur vor einem internationalen Gericht klären lassen. Aber auf einen solchen Prozess sollte sich Deutschland wohl nicht einlassen. Viel zu peinlich ist nämlich die Verweigerungshaltung der vergangenen 70 Jahre, die im Buch minutiös aufgezeigt wird. Polen und Griechenland, von dem hier ebenfalls die Rede ist, fügen sich bruchlos in die generelle deutsche Haltung, den Opfern nationalsozialistischer Gewalt, wenn überhaupt, nur nach hinhaltendem Widerstand und bürokratisch-juristischen Winkelzügen Brosamen zukommen zu lassen. So erhielten 1 060 689 Anspruchsberechtigte aus Polen - ehemalige Häftlinge, Zwangsarbeiter und andere Verfolgte - erstmals 1995 umgerechnet 405 Mark pro Kopf.
Die beschämende Summe steht im starken Kontrast zu der riesigen Zahl an Opfern - oder besser: sie steht in direktem Zusammenhang dazu, denn je mehr potenzielle Empfänger es gab, desto knausriger zeigten sich die verschiedenen Bundesregierungen seit Konrad Adenauer. Das gilt sogar für die sozial-liberale Koalition Willy Brandts mit ihrer neuen Ostpolitik, die zudem 1972 das deutsch-polnische Sozialversicherungsabkommen schloss. Man zahlte 1,3 Milliarden Mark, um Rentenansprüche aus den nun polnischen Ostgebieten abzulösen. 600 Millionen waren als "politische Komponente" gedacht, für die Opfer der Besatzung. Freilich hätte die individuelle Kompensation allein der Rentenansprüche den Fiskus mindestens acht Milliarden Mark gekostet. Ein wahrlich gutes Geschäft und ein weiterer Erfolg im Kleinkrieg gegen die Überlebenden.
Es geht um viele Milliarden. Bislang kam Deutschland sehr billig davon
An nennenswerten Zahlungen flossen darüber hinaus bis 2019 nach Polen außerdem Mittel für ehemalige Zwangsarbeiter sowie die Opfer pseudomedizinischer Versuche. Zur Bilanz dazuzurechnen sind, außer den Reparationen aus der DDR, die ehemaligen deutschen Ostgebiete, auf die Helmut Kohl 1990 einmal mehr öffentlichkeitswirksam verzichtet hat, um so Entschädigungsforderungen aus Polen abzuschmettern. Der Wert des dann polnischen Westens wurde 1945, nach den Kriegszerstörungen, bestimmt. Auch er lässt sich umrechnen und zu einer Gesamtsumme von heute 157,5 Milliarden Euro addieren - wobei die Gebiete mit Danzig, Breslau und Stettin für 98 Prozent dieses Betrags stehen. Eine gar nicht so geringe Summe.
Aber beinahe nichts, wenn man die finanziellen Folgen der Verbrechen der Jahre 1939 bis 1945 beziffert. Roth und Rübner arbeiten für diese Gegenrechnung mit den 1947 von Polen und den Alliierten offiziell festgestellten Zahlen, die sie mit neueren Erkenntnissen etwa zur Ausbeutung des besetzten Landes kombinieren. Das ist nicht immer die Höhe des Forschungsstands, etwa wäre statt mit 6,03 Millionen Kriegstoten wohl eher mit 5,7 Millionen zu rechnen, von denen etwa 300 000 durch die Sowjetunion ermordet wurden.
Wichtiger ist aber die Frage, wie viel ein Toter wert ist - und in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht werden dafür 5000 Dollar des Jahres 1938 angesetzt. Das ist also nicht fiktional, aber dennoch absurd, weil sich der Wert eines Menschenlebens nicht beziffern lässt. Doch bessere Lösungen gibt es nicht. Und ganz generell bleiben sämtliche Berechnungsgrundlagen nur Näherungen und Schätzungen, weil es keine exakten Daten geben kann. Einerseits fehlen Unterlagen, andererseits lassen sich Immobilien und Kulturgüter im volkswirtschaftlichen Maßstab nicht absolut präzise bestimmen.
Und selbst die Schätzungen haben es in sich. Auf 1 182 Milliarden Euro kommen Roth und Rübner allein für Mord, Ausbeutung und Zerstörungen in Polen. Europaweit sind es, insbesondere wegen der nochmals monströseren Dimension der Vernichtung in der Sowjetunion, sogar 7515 Milliarden Euro. Davon sind die bisher geleisteten Zahlungen abzuziehen, wonach im Fall Polen immer noch knapp 87 Prozent der Summe offen sind. Das ist ziemlich genau der Prozentsatz, der sich auch für die gesamte "Wiedergutmachung" - ein schreckliches Wort - ergibt. Von den immerhin 950 Milliarden Euro, die nach heutigem Zeitwert seit 1945 geleistet wurden, entfielen allerdings über vier Fünftel auf Überlebende aus Deutschland, die mit weniger als fünf Prozent aller Verfolgten eine vergleichsweise kleine Gruppe darstellen. Doch je ferner die Opfer uns stehen - räumlich wie kulturell -, desto schlechter sind sie gestellt.
Das zeigt diese Studie höchst eindringlich. Sie lässt sich nicht damit abtun, dass es manchmal eine präzisere Datengrundlage gibt, denn das Missverhältnis von Schuld und Tilgung ändert sich dadurch nicht grundlegend. Deutschland hat Millionen Menschen ermordet, ihre Lebensgrundlage zerstört und ihre Kultur geplündert. Es ist damit vergleichsweise billig davongekommen. Darum plädieren Roth und Rübner dafür, die bisher geleistete Summe zu verdoppeln, als Akt sozialer Gerechtigkeit. Das wäre ein Beitrag zum Ausgleich des europäischen Wohlstandsgefälles, dessen Ursachen zumindest teilweise im Zweiten Weltkrieg liegen.
Der Vorschlag mag weltfremd wirken, aber ein gemeinsames Vorgehen der damaligen "kleinen Alliierten" insbesondere mit Russland könnte durchaus den notwendigen außenpolitischen Druck aufbauen. Besser wäre daher, darauf nicht zu warten und es nicht auf eine gerichtliche Verurteilung ankommen zu lassen, denn das delegitimiert die Formel der historischen Verantwortung, die deutsche Politiker im In- und Ausland immer wieder betonen. Anstatt also auf die "biologische Endlösung" zu warten, müsste man den vielen warmen Worten der Entschuldigung finanzielle Taten folgen lassen.
Allein in Polen gibt es immer noch etwa 40 000 Menschen, die Opfer deutscher Verbrechen waren und bislang nur Almosen erhielten.
Stephan Lehnstaedt ist Professor für Holocaust-Studien am Touro College Berlin.