Reisen quer durch Deutschland:Flucht an die Ränder

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In einem "verunsicherten Land" ist Thomas Medicus unterwegs: Deutschland heute, im sozialen Umbruch begriffen. "Nach der Idylle" heißt sein Buch, aber hat es eine solche Idylle denn jemals gegeben?

Von Florian Welle

Wer ist dieser Deutschland?" Es war dieses auffällige Graffito an einer Häuserwand in Berlin-Charlottenburg, das den Publizisten und Autor Thomas Medicus zu seiner "Reportage aus einem verunsicherten Land" animiert hat. Zwar ist die Rede von der Krise hierzulande längst notorisch geworden. Doch wenn, als ein Beispiel unter vielen, Sigmar Gabriel in einem Vortrag auf dem Kulturpolitischen Kongress im Juni, also noch vor den Bundestagswahlen, viele Facetten der Verunsicherung wie "Machtverlust, Kontroll- und Orientierungsverlust" diagnostiziert, bleibt immer noch offen, wer genau unter diesen Verlusten leidet.

Thomas Medicus wollte Antworten finden und reiste von München bis Flensburg, von Görlitz bis Aachen, um Land und Leute kennenzulernen. Um von Sorgen, Nöten und Befindlichkeiten zu hören, wie denen von Franziska M., Erbin eines traditionsreichen Unternehmens für Naturstein im Altmühltal, die gegen die weltweite Konkurrenz nicht bestehen konnte und heute eine kleine Designfirma leitet. Oder von denen der polnischen Putzfrau Grazyna, die mit ihrem Mann gleich nach der Wende in der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Deutschland kam und nun, der Mann ist längst weg, vor allem ihre kranke Mutter pflegt: "Zufrieden bin ich schon in Berlin, aber irgendwie komme ich mir auch verloren vor."

"Nach der Idylle" hat Thomas Medicus seine Beobachtungen und Erlebnisse genannt. Wobei man, auch wenn dieser Titel zu der allgegenwärtigen Krisendiagnose ja durchaus passt, trotzdem einmal die Frage stellen muss, ob es wirklich stimmt, dass wir noch bis vor Kurzem in einem Zustand nahezu paradiesischer Glückseligkeit gelebt haben?

Denn dies zumindest suggeriert der Begriff Idylle, den der Duden als Schilderung "besonders von Hirten- und Schäferszenen" definiert. Ganz so also, als hätte es zum Beispiel nie die "German Angst" (Waldsterben!) oder ein "BRD Noir" gegeben, wie es im vergangenen Jahr der Schriftsteller Frank Witzel und der Historiker Philipp Felsch in ihrem gleichnamigen Buch beschrieben. Von konkreten politischen Herausforderungen ganz zu schweigen. Man könnte hier an den Deutschen Herbst denken, der gerade vierzig Jahre zurückliegt.

Die Veränderungen der deutschen Sozialstruktur ist in den Bauten sichtbar: Berlin, im August 2017. (Foto: Regina Schmeken)

Für seine Deutschlandreise setzte sich Thomas Medicus in die Bahn, benutzte also ein Verkehrsmittel, über das zu spotten längst lästige Mode geworden ist, und das doch wie kein zweites für sein Unternehmen geeignet war. Einerseits erlaubt es immer noch, den Blick über Landschaft, Häuser und (Klein-)Städte schweifen zu lassen - Medicus benutzt häufig Regionalzüge und schaut gerne aus dem Fenster. Andererseits lassen sich im Zug ungestört Menschen "belauschen", wie es in der Einleitung heißt. Oder man kann gleich zwanglos mit ihnen plaudern.

Wobei Thomas Medicus für das spontane Gespräch ein zu feiner Mensch ist. Er drängt sich nicht gerne auf. "Ich lasse die Chance ungenutzt, mich in seine Nähe zu begeben, um vielleicht doch noch ins Gespräch mit ihm zu kommen", schreibt er über einen Mann, mit dem er gerade in einem Abteil die Fahrt von Flensburg nach Hamburg verbracht hat, und der ihm zufällig noch einmal über den Weg läuft.

Was man bedauert, schließlich wird einem dieser Herr als "ehrfurchtgebietend" vorgestellt, mit einem "Antlitz, wie man sich Konsul Thomas Buddenbrook vorstellt". Das weckt Neugier. Zudem drängt sich die Frage auf: Wer wäre denn besser geeignet, über Verunsicherung zu reden, als jemand, der aussieht wie der Kaufmann und Untergeher Thomas Buddenbrook? So oder so: Wir werden es nie erfahren.

In den Blick kommen bei Thomas Medicus vor allem menschliche Schicksale

Die Stärke des Buches liegt in der Begegnung mit Menschen, mit denen Thomas Medicus sich zuvor zum Gespräch verabredet hat. So führt ihn seine Reise auch zu Christina P., Pastorin in Neumünster, der Stadt mit dem höchsten Anteil an Hartz-IV-Empfängern in Schleswig-Holstein. Eines der eindrücklichsten Kapitel. Von ihr erfährt man, wie dies auch das Stadtbild prägt. Während die sogenannten Besserverdienenden an die Ränder ziehen, bevölkern die Abgehängten das Zentrum: "Die Veränderung, ja zum Teil sogar Auflösung der traditionellen Sozialstruktur hat viele bauliche Lücken gerissen ... Da geht es Neumünster kaum anders als anderen deutschen Städten vergleichbarer Größe."

"Nach der Idylle" setzt sich aus vielen Einzelbildern zusammen, die gemeinsam ein "deutsches Panorama" der Gegenwart ergeben. Thomas Medicus erweist sich als genauer Zuhörer und Beobachter. In den Blick kommen vor allem menschliche Schicksale. Aber auch das, was Deutschland ausmacht, etwa die Stadttheater. Nicht zuletzt der Wirtschaftsfaktor Nummer eins, die Automobilbranche.

Medicus trifft sich mit dem Mobilitätsexperten Weert Canzler, der Deutschland bei dem Thema öffentliche Mobilität den Anschluss verlieren sieht. Dessen Argumentation fasst Medicus so zusammen: "Wo genau die postfossile Verkehrswende stattfindet, das muss sich bald erweisen. Zwar haben sich die Gewichte bereits heute Richtung Asien verschoben, aber den Zukunftsmarkt dürfen sich die deutschen Automobilhersteller nicht wegschnappen lassen. Den Preis einer vollständigen Selbsterneuerung müssen sie entrichten. Umso notwendiger ist das radikale Nachdenken über eine alternative Mobilitätspolitik abseits eingefahrener Wege." Kommt diese nicht, dürfte man wohl in einigen Jahrzehnten eine Reportage aus einem dann erst recht verunsicherten Land lesen.

Thomas Medicus : Nach der Idylle. Reportage aus einem verunsicherten Land. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2017. 320 Seiten, 19,95 Euro. E-Book 16,99 Euro.

© SZ vom 19.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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