Reisebekanntschaften:Frische Luft

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Christoph Rehage schließt sich einer chinesischen Reisegruppe an, die Europa besichtigt. Die Touristen beobachten ihn dabei mindestens so neugierig wie er sie.

Von Sebastian Niemetz

In großen Lettern stand auf dem Titelblatt: "China greift nach Europa!" Daneben sprühte ein finster dreinblickender Drache rotes Feuer über den Globus. Nachdem Christoph Rehage sich das Wirtschaftsmagazin mit dem Ungeheuer vorne drauf an einer Autobahnraststätte in Österreich gekauft hatte, wollte einer seiner Reisebegleiter, ein junger Mann aus China, wissen, ob das tatsächlich sein kann, dass Leute aus dem Westen immer Drachen oder Pandas sehen wollen, "wenn von unserem Land die Rede ist". Offenkundig ist das sehr oft so.

Christoph Rehage hat im Februar 2015 zwölf chinesische Touristen auf ihrer zweiwöchigen Europareise begleitet, um herauszufinden, was sie an unserer Heimat interessiert, mit welchem Blick sie ihr begegnen. Sein Buch "Neuschweinstein" ist aber auch ein Bericht über das China-Bild der Europäer geworden. Wobei sich sein eigenes beileibe nicht nur aus Drachen und Pandas zusammensetzt.

Der 35-jährige Autor ist Sinologe, er hat eine Zeit lang in Peking gelebt und ist 2007 von dort zu Fuß mehr als 4600 Kilometer bis in den Westen Chinas gereist. Daraus ist sein Reisebericht "The Longest Way" entstanden, außerdem ein gleichnamiger Internetfilm sowie der Bildband "China zu Fuß".

Nun also bereist er Europa, als Teil einer Touristengruppe, in der außer ihm und dem slowenischen Busfahrer alle übrigen aus China stammen. Rehage beschreibt, wie er die Touristen kennenlernt, sie beobachtet, mit ihnen redet und Freundschaften schließt. Dabei zeigt sein Buch, wie ähnlich die Reisenden aus China den europäischen Touristen trotz aller Unterschiede doch sind. "Neuschweinstein" ist dabei eine Geschichte ohne viele Schnörkel und Spektakel, ohne episches Drachenfeuer.

Egal ob ein schlechtes Hotel oder fades Essen, Spannungen und Konflikte werden vermieden

Über ein chinesisches Reisebüro haben die zwölf Chinesen diese Gruppenreise gebucht - Rehage hat es ihnen gleichgetan und ist mit ihnen von Peking aus aufgebrochen. Für die Touristen aus China ist es samt und sonders ihr erster Trip nach Europa. Schnell wird klar, dass man sie nur schwer als eine Einheit fassen kann. Zwar kommen alle aus der urbanen Mittelschicht des Landes, dennoch unterscheiden sie sich mitunter stark durch ihre Herkunft und ihre Interessen. Da ist etwa der alleinstehende, kettenrauchende Investmentbanker Hou, dem der deutsche Mitreisende lange besonders suspekt ist. Da sind auch die Kunststudentin Yumeng, die Ai Weiwei nicht kennt, oder Tianjiao, das Mädchen aus dem versmogten Peking, das zwischen laufenden Automotoren vor dem Münchner Flughafen steht, tief einatmet und sich ernsthaft über die frische Luft freut.

Christoph Rehage: Neuschweinstein. Mit zwölf Chinesen durch Europa. Malik Verlag, München 2016. 272 Seiten, 15 Euro. E-Book 12,99 Euro. (Foto: Malik Verlag)

Was die Reisenden verbindet, ist der Wille, einmal die typischen Sehenswürdigkeiten Europas zu besichtigen. In ihrem Land erfreuen sich der Eiffelturm oder die Kanäle von Venedig einer fast kitschigen Beliebtheit - beide sind wie etliche weitere touristische Attraktionen auch in der Volksrepublik nachgebaut worden.

Dass die Realität nicht immer den - ohnehin romantischen - Erwartungen standhält, scheint die Europareisenden nicht aus der Ruhe zu bringen. Überhaupt hat die Harmonie in der Gruppe immer Priorität. Egal ob ein schlechtes Hotel oder fades Essen, stets werden Spannungen oder Konflikte vermieden. Dem deutschen Mitreisenden trauen sie nicht von Anfang an. Doch weil Christoph Rehage fließend Mandarin spricht und chinesische Gepflogenheiten kennt, schafft er es ziemlich schnell, das Eis zu brechen und sich relativ unauffällig in die Gruppe einzureihen. Spätestens als er ihnen durch seine Europakenntnisse zu Hilfe kommt, etwa als er beim Ticketkauf in der Pariser U-Bahn eingreift, lernen sie ihren Begleiter schätzen und überschütten ihn mit Fragen über die fremde Kultur: Warum fahren in der Schweiz die Busse immer auf die Minute genau - ist das nicht nervig? Warum wird in vielen Ländern Europas für die Benutzung öffentlicher Toiletten Geld verlangt? Und kann es sein, dass Europäer Veränderung nicht so sehr mögen?

Als ein Mitreisender Rehage fragt, was er vom Straßenverkehr in Paris hält, zeigt sich, dass die Chinesen auch die typischen Stereotype der europäischen Länder kennen und kopieren. Nachdem er arglos mit "Könnte besser sein" antwortet, bricht die Reisegruppe zufrieden in Gelächter aus: Der ordentliche Deutsche blickt auf den chaotischen französischen Verkehr hinab - Klischee bedient. Manche von den Chinesen lernen erst auf dieser Reise, dass Fischaugen, Entengedärm und Hühnerfüße nicht jedermanns Speisen sind. Dass aber andere Menschen dafür gerne Dinge wie Lakritze, Schimmelkäse oder Mettbrötchen zu sich nehmen, das können sie nicht wirklich begreifen. Vom tatsächlichen Alltag der Europäer bekommt die Reisegruppe allerdings nicht viel mit. Gegessen wird stets in chinesischen Restaurants, eingekauft wird meist in Geschäften, die sich auf chinesische Touristen spezialisiert haben. Die Reisenden bleiben fast die ganze Tour in ihrer Gruppe. Nur einmal entfernt sich die junge Tianjiao von den anderen, um eine Freundin, die in der Schweiz studiert, zum Abendessen zu treffen - natürlich nur mit Erlaubnis des Reiseleiters.

Zu dramatischen Szenen oder gar einem Aufeinanderprallen von Kulturen kommt es also nicht. Stattdessen lernt man unter anderem den chinesischen Humor besser kennen: Als die Gruppe Neuschwanstein besucht, erinnert sich Rehage, dass eine chinesische Freundin das Schloss immer "Neuschweinstein" nannte. Er hatte einige Male versucht sie zu korrigieren, bis er merkte, dass sie es absichtlich so aussprach. Wenn eine Chinesin dich mag, wurde ihm erklärt, ärgert sie dich.

© SZ vom 29.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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