Rechtsextremismus:Chor der Angst

Lesezeit: 6 min

Angst vor dem sozialen Abstieg. Vor Übervorteilung, Ausländern, Gewalt und dem eiskalten Markt. Es sind unheimliche Momente, als sich in Dresden Volkes Stimme auf der Bühne entlädt.

Alex Rühle

Zweimal bekommt man an diesem Wochenende Volkes Stimme zu hören, einmal die einfachen Leute aus einem Dorf in der Uckermark, das andere Mal die Theaterbesucher einer Großstadt. Einmal als stilles Kammerspiel, das andere Mal als wüstes Oratorium. Und doch hat man das Gefühl, zweimal ein Thema mit nur beklemmend wenig Variationen erlebt zu haben.

Volkes Stimme - ein Chor der Angst. Angst vor dem sozialen Abstieg, vor Übervorteilung, Ausländern, Gewalt und dem eiskalten Markt (Foto: Foto: ddp)

Hier wie dort die zehrende Sehnsucht nach einer heilen Welt, nach einem stabilen Alltag, der von Arbeit strukturiert wird. Hier wie dort wird die Wende als Schock erfahren, als "zweite kopernikanische Wende: Der Mensch steht nicht mehr im Mittelpunkt des Lebens, die Gemeinschaft hat sich aufgelöst." So schreibt es der Dramaturg Stefan Schnabel in einem Text über den "Woyzeck von Georg Büchner und 529 Dresdner Theaterbesuchern".

Das Staatsschauspiel Dresden hat im Frühjahr seine Zuschauer befragt nach ihrem "Lebensgefühl, ihren Erfahrungen, und ihrer Meinung zu Familie, Politik und Gesellschaft". 529 Besucher haben darauf reagiert, der Regisseur Volker Lösch und der Dramaturg Stefan Schnabel - die vor drei Jahren auf ähnliche Art Hauptmanns "Weber" mit den Arbeitserfahrungen der Dresdner Bürger kurzschlossen -, haben diese Antworten mit Büchners "Woyzeck" verwoben.

Als eigenständige Rollen gibt es nur den Woyzeck, Marie und den Tambourmajor, ein Laienchor spricht Volkes Stimme und die restlichen Rollen, ein Chor, der sich aufteilt in Alte und Junge, der ansonsten aber nicht polyphon, sondern nur polyphob agiert: ein Chor der Angst. Angst vor dem sozialen Abstieg. Vor Übervorteilung, Ausländern, Gewalt und dem eiskalten Markt.

Ein Zittern wie beim Bleigießen

Die Bühne: ein Puppenheim, Schrebergarten, Wohnzimmer, Jägerzaun - hier bin ich Kleinbürger, hier darf ich's sein. Die Alten geben sich als hedonistische Freizeitkohorte, veranstalten Partys mit Rotkäppchensekt, summen auf Picknickdecken ostalgische Lieder und klagen über die Kälte: "Heute wird man als Individuum alleingelassen, das bedeutet also Freiheit." Teilweise hat man den Eindruck, hier parliert der nationale Widerstand, so nah sind die verängstigten Sätze an den Pamphleten der NPD.

Heiner Müller schrieb 1985 über den "Woyzeck", der ja Fragment blieb: "Eine Struktur, wie sie beim Bleigießen entstehen mag, wenn die Hand mit dem Löffel vor dem Blick in die Zukunft zittert." Bleigießen. Das fehlt noch in den Angstbetäubungsritualen der rüstigen Alten, sonst lässt dieser Chor nichts aus: Putzen, Picknick, Singen, Sonnenbaden...

Ihre Kinder, die Jugendlichen, kennen nur vier Aggregatszustände: Saufen, Langeweile, Gewalt und Angst. Marie und Woyzeck sind hyperaktive Jugendliche in einem grausamen Rudel, lebenslang sitzen sie in Stammelheim ein und übertönen die eigene Sprachlosigkeit mit größtmöglichem Lärm.

Der Tambourmajor, eine Art Techno-Alphamännchen, fängt das launische Girlie Marie mit nationalen Gesängen ein. Woyzeck wird getrieben von einer übermächtigen Angst, "alles hohl da unten". Sein Gefühl, von der Natur gar nicht vorgesehen gewesen zu sein, seine halbparanoide Totalverstörung passt sich nahtlos ein in die Abstiegsängste der Dresdner Jugendlichen.

Wer ist schuld am Zustand der Gesellschaft?

Auf die Frage, wer schuld sei am Zustand der Gesellschaft, antworteten die Dresdner im Fragebogen, Junge wie Alte, mit Versatzstücken populistischer Welterklärung: Schuld sind das globale Kapital, die antiautoritäre Erziehung, und, immer wieder, die da oben.

Auf der zweiten Seite: Warum der Begriff Rechtsextremismus längst irreführend ist

Das Gefühl, mündige Bürger einer Demokratie zu sein, wurde in den Antworten anscheinend kaum artikuliert. Wohlgemerkt, hier spricht ein bürgerliches Theaterpublikum, und doch bricht sich da eine Art Extremismus der Mitte Bahn, der im Stück Nährboden ist für eine Kultur der Fremd- und Selbstzerstörung, die am Ende in Woyzecks Mord an Marie gipfelt.

Das Städtchen Mügeln: Schnell einigte man sich hier auf die Formel: "Es gab keine Hetzjagd in Mügeln, es gab nur eine Hetzjagd auf Mügeln" (Foto: Foto: ddp)

Tiefbohrung der ostdeutschen Seele

Schnabel nennt diesen "Woyzeck" eine "Tiefbohrung in die ostdeutsche Seele". Er und das Staatsschauspiel beließen es nicht bei dieser einen Bohrung, sondern veranstalteten am Wochenende zusammen mit der Friedrich-Ebert-Stiftung eine Tagung mit dem Titel "Die neuen Woyzecks - Rechtsextremismus und Gewalt von Jugendlichen in Ostdeutschland".

Wenn es so etwas wie ein Leitmotiv dieser Tagung gibt, dann die Feststellung, dass der Begriff Rechts-Extremismus längst irreführend ist: Die vermeintlich am extremen Rand anzusiedelnden Einstellungen sind in die Mitte gesickert.

Der Berliner Politikwissenschaftler Hajo Funke sagte in seinem Eingangsvortrag, der gewaltbereite Rechtsextremismus habe in Deutschland "mit den sozialen Enttäuschungen nach der Euphorie der Einigung und einer Politik falscher ökonomischer und politischer Versprechungen einen für Westeuropa einzigartigen Aufschwung genommen" und in den vergangenen 17 Jahren zu mehr als 150 Ermordeten, mehr als 15.000 Gewalt- und mehr als 150.000 Straftaten geführt.

Verleugnen und Kleinreden

Kurt Biedenkopf sagte noch im Jahr 2000, das Phänomen des Rechtsextremismus gebe es in Sachsen nicht. Und eigentlich geht es bislang immer so weiter mit dem Verleugnen und Kleinreden oder dem grundlegend verunsicherten Lavieren. Als Christian Demuth von der Aktion Bürger-Courage mit einem großen städtischen Unternehmen in Dresden eine Aktion starten wollte zur "Förderung der Demokratie", wurde das zunächst mit der Begründung abgelehnt, solch eine Aktion diskriminiere all diejenigen, die gegen Demokratie seien.

Der Bürgermeister von Mügeln fragte nach der Hetzjagd auf acht Inder, was die Aufregung denn solle, Parolen wie "Ausländer raus" könnten schließlich jedem mal über die Lippen kommen. Schnell einigte man sich in dem Städtchen auf die Formel: "Es gab keine Hetzjagd in Mügeln, es gab nur eine Hetzjagd auf Mügeln."

Im letzten Abschnitt: Was die Jugendlichen über die Rechten sagen

Auf ähnliche Sätze haben sich die Bewohner von Potzlow in der Uckermark geeinigt, das 2002 zum Menetekel rechtsradikaler Gewalt und eines verrohten Ostens wurde. Drei Jugendliche hatten einen Freund auf bestialische Weise ermordet und danach mitten im Dorf, hinter den ehemaligen Schweineställen der LPG, verscharrt. Der Dokumentarfilmer Andres Veiel fuhr monatelang nach Potzlow, protokollierte Hunderte Gespräche mit Bewohnern des Dorfes und montierte sie zu dem Stück "Der Kick", dem er den nüchtern-exemplarischen Untertitel "Lehrstück über Gewalt" gab: Es geht ihm nicht darum, eine besonders grausame rechtsextreme Gewalttat zu stigmatisieren, vielmehr untersucht er anhand dieses Verbrechens und des kollektiven dörflichen Schweigens danach die Voraussetzungen für die Kultur, in der Gewalt als normal erlebt wird.

Die Wut sitzt drinnen

Ein Leitmotiv des Stücks, das in Dresden am Morgen nach dem "Woyzeck" gezeigt wurde, ist das verhockte, hilflose Schweigen. Das hat sich angestaut, es wollte ja keiner wissen - solche Sätze fallen immer wieder. Der Vater der Mörder sagt über seinen eigenen Vater, der 1945 mitansehen musste, wie seine Eltern von Russen stranguliert wurden, und der 1960 enteignet wurde: "Kannst dich nicht wehren. Die Wut saß drinnen, aber er hat sich nie beschwert."

Die Wut sitzt drinnen... Peter Sloterdijk sprach mal vom Zornkonto der Generationen: Die Alten zahlen ein, die Jungen heben stellvertretend ab. Veiels "Kick" ist deshalb so wertvoll, weil er sich allen monokausalen Erklärungen versperrt. Aber ähnlich wie in Löschs "Woyzeck"-Inszenierung sprießt hier die Gewalt wie ein schwarzer, ferner Unkrautspross aus dem eingehegten Vorgarten der Eltern, verbunden durch ein unterirdisches Wurzelwerk mit deren Ängsten und Verdrängungen.

Die da oben - wir hier unten

Ob nun Dresdner Theaterpublikum oder Potzlower Dorfbewohner: Hier wie dort wird über Politik fast ausnahmslos geredet in der Dichotomie von denen da oben und uns als kleinen Leuten. Genau diese Dichotomie aber betreibt die NPD nach Kräften: Es gibt die Nomenklatur im fernen Berlin, und es gibt uns, die wir aus der Mitte des Volkes kommen und uns um eure Belange kümmern.

Hannelore Koch, Albrecht Goette und Kai Roloff, die Schauspieler vom Dresdner Staatsschauspiel, die den "Kick" in Simone Eisenrings meisterhaft strenger Inszenierung interpretierten, treten mit dem Stück oft in Schulen und Jugendclubs auf. "Wir fragen die Schüler nach dem Stück, was sich für sie geändert hat seit der letzten Wahl, ob sie das Gefühl haben, dass sich die Politik um sie kümmert," sagt Albrecht Goette. "Da heißt es dann meistens, die Rechten, das sind die Einzigen, die in Erscheinung treten."

Am Abend zuvor stimmt Kai Roloff, der den Tambourmajor als Rädelsführer spielt, einen Song von Annett Müller an, dieser "nationalen Liedermacherin", die in bester Protestsongtradition und mit einer Stimme wie Joan Baez ihre Lieder über den drohenden Tod des deutschen Volkes intoniert: "Wenn der Wind sich dreht in diesem Land, dann nur durch unseren Widerstand, denn ohne Druck von unten wird oben nichts geschehen." 20 bis 30 Leute im Publikum klatschten danach. Was für ein unheimlicher Moment, zeigt er doch, wie genau die Neonazis der bürgerlichen Mitte den Angstpuls fühlen.

Kurt Möller, Soziologie-Professor in Esslingen, zitierte am Ende seines Vortrags über "Ausstieg aus Rechtsextremismus und Gewalt" einen Neonazi, der seine Bomberjacke ablegte - nicht um auszusteigen, sondern um sich politisch zu konsolidieren: "Meine Einstellung hat sich radikalisiert, ich ordne mich jetzt ganz rechts ein. Skinheads sind undeutsch mit ihrem Gesaufe und provokativem Gepöbel."

Und Kai Roloff, der im "Kick" alle Jugendlichen verkörpert, sagt, er sei während der Proben auf eine rechtsextreme Homepage gestoßen, auf der die Brüder Schönfeld, die Mörder aus Potzlow, die ihr Opfer nach stundenlangen Folterungen zwangen, in die Betonkante eines Schweinetrogs zu beißen und ihm dann mit Springerstiefeln auf den Hinterkopf sprangen, als "Faschingsnazis" verhöhnt werden. Kaputte Nichtsnutze wie die beiden werde man im Vierten Reich sofort im KZ entsorgen.

© SZ vom 13.11.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: