Realismus:Monsterlüge

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Neles Leben wird völlig aus der Bahn geworfen, als die Familie durch den Tode des Vaters plötzlich aus ihrer vornehmen Villa ausziehen muss.

Von Verena Hoenig

Die Angst vor dem sozialen Abstieg geht um in Deutschland. Gernot Grickschs erzählt von einem solchen, nicht als triste Sozialstudie, sondern in einem schnell geschnittenen Jugendroman mit witzigen, aber auch erschreckenden Szenen. Denn Themen wie Gewalt, Mobbing und Drogen werden nicht ausgeklammert.

Die 15-jährige Nele ist hübsch, beliebt, ihre Eltern sind wohlhabend und die Zukunft erscheint rosig. Da kommt der Vater ums Leben und Ehefrau, Tochter und Sohn sehen sich einem Schuldenberg gegenüber. Aus der Poppenbütteler Villa wird eine Sozialwohnung in der Hochhaussiedlung von Hamburg-Steilshoop. Statt Fitnessstudio und Nachhilfeunterricht gibt es Hartz IV, Klamottenkaufsperre, nur noch Leitungswasser zu trinken und billige Handyverträge lösen die teuren ab. Mit ihrem abgebrochenen Studium gilt die Mutter im System als "ungelernte Hilfskraft" und erhält lediglich einen Job in einer Bäckerei. Die Schmach kaschiert man gegenüber Freunden und Bekannten mit der "Monsterlüge" vom Umzug nach New York. Alle Kontakte werden abgebrochen. Neles 14-jähriger Bruder Timo ist im Grunde erleichtert über den radikalen Bruch. Er galt als Nerd und war den Drangsalierungen eines sadistischen Mitschülers ausgesetzt. Nele hat Anpassungsschwierigkeiten und schnell den Ruf als "Püppchen" und "Kleine Königin" weg. Nach vielen Tränen ist auch sie bereit, es mit den "Jogginghosen-Kevins" und bunt glitzernden "Chantals" aufzunehmen. Das Jugendzentrum Bricks wird dabei zur wichtigen Anlaufstelle.

Aus dem Aufeinanderprallen der Milieus resultiert die Komik. Die Jugendlichen, die einander unter normalen Umständen nie begegnen, haben nichts als Vorurteile über die jeweils anderen. Dabei ähneln sich ihre Gefühle, Hoffnungen und Träume. Nele verliebt sich sogar und gibt ihr Selbstmitleid endgültig auf, als sie erkennt, dass ihre neue Freundin Samira alles verliert, weil sie untertauchen muss, um einer Zwangsheirat zu entgehen. Und dann entdecken durch die alten Klassenkameraden Nele: Der Amerika-Schwindel fliegt auf.

Gernot Gricksch gilt als einer der meistverfilmten deutschen Autoren; auch die Filmrechte an "Ghetto Bitch", seinem ersten Jugendroman, wurden bereits vergeben. Der Hamburger hat selbst eine 15-jährige Tochter. Vielleicht trifft er die Sprache der heutigen Teenager-Generation deshalb so gut. (ab 14 Jahre)

Gernot Gricksch: Ghetto Bitch. Dressler Verlag, Hamburg 2016. 320 Seiten, 14,99 Euro.

© SZ vom 29.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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