Realismus in der Literatur:Du bist ich

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Illustration: Sead Mujic (Foto: Sead Mujic)

Das Spiel mit Fakt und Fiktion ist alt. Schon Miguel Cervantes beherrschte es in seinem "Don Quijote". Der Realismus in der Literatur ist nicht die Wiedergabe der Wirklichkeit.

Von Lothar Müller

In seinem Film "Annie Hall" (1977, dt. "Der Stadtneurotiker") steht Woody Allen mit seiner Freundin in der Schlange an der Kinokasse. Während die beiden wieder einmal über ihre Sex-Probleme streiten, räsoniert hinter ihnen endlos ein Mann über Fellini, Beckett und so weiter. Als er dann die Medientheorie von Marshall McLuhan zu erläutern beginnt, wird es Woody Allen zu bunt. Er tritt aus der Reihe heraus, auf die Kamera zu und fragt in sie hinein: "Was tut man, wenn man sich an der Kinokasse die Beine in den Bauch steht und so einen Menschen hinter sich hat?" Dann kommt der Dauerredner hinzu, beruft sich, ebenfalls mit Blick auf die Kamera, auf die Meinungsfreiheit, und als er dann stolz von seinen Vorlesungen über Fernsehen, Medien und Kultur an der Columbia University berichtet und sich seiner McLuhan-Auslegung rühmt, zieht Woody hinter einer Reklametafel einen Herrn hervor: "Darf ich bitten, Mr. McLuhan?" Der hochgewachsene Herr im hellen Jackett, die linke Hand lässig in der Hosentasche, sagt: "Ich habe gehört, was Sie gesagt haben. Sie haben keine Ahnung von meinem Werk."

Die Pointe dieser Szene liegt nicht darin, dass der hochgewachsene Herr zum Kronzeugen des schadenfroh in die Kamera grinsenden Woody Allen wird. Die Pointe liegt darin, dass es sich beim McLuhan-Darsteller um den echten Herbert Marshall McLuhan handelte. Aber ein Gastauftritt der Wirklichkeit ist das nur scheinbar. Die Szene endet damit, dass Woody Allen in die Kamera seufzt: "Ach, gäbe es so was doch im echten Leben."

Lange vor dem Film und der modernen Medientheorie hat die Literatur die einfache Opposition von "Fiktion" und "Leben" durcheinandergebracht. Jeder Leser des "Don Quijote" weiß, dass es darin nicht lediglich um den Kampf des Ritters gegen die Schimären der Ritterromane geht, denen er in der Wirklichkeit zu begegnen glaubt. Denn diese Wirklichkeit, an der sich Don Quijote den Kopf einrennt und in der sich Sancho Panza so gut auskennt, dass man glauben könnte, er sei aus ihrem Stoff gemacht, mag eine der Quellen des realistischen Romans sein. Aber der Realismus ist in der Literatur wie in der Malerei oder im Film nicht die Wiedergabe der Wirklichkeit, sondern die Kunst, die Illusion ihrer Anwesenheit hervorzubringen.

Der Realismus ist in der Literatur wie in der Malerei oder im Film nicht die Wiedergabe der Wirklichkeit

Darum ist schon der "Don Quijote" ein tief gestaffelter Raum, in dem "Wirklichkeit" und "Fiktion" in immer neuen unreinen Mischungen einander begegnen. Im zweiten Band des "Don Quijote" trifft der Held auf Figuren, die den ersten Band gelesen haben. Und nicht nur das. In einem Gasthof hören Don Quijote und Sancho Panza zudem, wie sich im Nebenzimmer zwei Reisende über den zweiten Teil des "Don Quijote von der Mancha" unterhalten. Es handelt sich dabei aber um das falsche Buch, nämlich die Fortsetzung, die ein Autor namens Avellaneda nach dem Erfolg des ersten Bandes von Cervantes' Roman verfasst hatte.

Cervantes hatte in seinen Roman die Fiktion eingebaut, er habe ihn nicht selbst verfasst, sondern folge lediglich der "arabischen Chronik" eines gewissen Cide Hamete Benengeli. Aber er wehrte sich natürlich gegen den Konkurrenten Avellaneda, und ein Mittel dieser Gegenwehr war, dass er eine Hauptfigur aus der apokryphen Fortsetzung des Plagiators in seinen eigenen zweiten Band aufnahm.

Marshall McLuhan hat ins Zentrum seines Buches "Die Gutenberg Galaxis" das Porträt des "typografischen Menschen" gestellt, der aus den Druckereiwerkstätten hervorging und von ihren Produkten bis in die feinsten Verästelungen seines Innenlebens hinein geprägt wurde. Gegen Ende des zweiten Teils von Cervantes' "Don Quijote" besucht der Held in Barcelona eine Druckerwerkstatt und begegnet dort sich selbst als Fälschung - in einem Exemplar des "Don Quijote" von Avellaneda, das sich gerade im Korrekturgang befindet. Es ist dem Münchner Literaturfest zu wünschen, dass es dort ebenso witzig zugeht.

© SZ vom 02.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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