Provinz:Weniger Fleisch, mehr Anarchie

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Wie kommt es zur Landflucht? Wie lässt sich der Bürgersinn am Leben halten? Ein Kongress in Halle.

Von Till Briegleb

Für eingefleischte Städter mag es eine echte Überraschung sein, welche brennenden Themen berührt werden, wenn Experten sich intensiv mit dem Leben auf dem Dorf und in Kleinstädten beschäftigen. Von hilfreichen Erklärungen für den Anstieg des Demokratieverdrusses bis zur luziden Analyse, warum deutsche Regulierungswut ein Innovationshemmnis auf allen Ebenen ist, finden sich eine Menge Gründe für den aktuellen gesellschaftlichen Rückschritt auch im Bereich zwischen den Städten. Aber ebenso frappierend ist auf einem dreitägigen "Ideenkongress zu Kultur, Alltag und Politik auf dem Land", wie er jetzt in Halle an der Saale stattfand, wie viel man sich damit beschäftigt, den rückschrittlichen Ruf des urbanen "Distanzgrüns" ins Positive zu wenden - gerade im vermeintlichen Gegensatz zur innovativen Stadt.

Früher Disco-Fahrten, heute Internet - eigentlich schwindet der Gegensatz von Stadt und Land

Kaum ein Wissenschaftler und lokaler Akteur auf dieser Veranstaltung des Projektbüros "Trafo" - einer Initiative der Kulturstiftung des Bundes - verzichtete auf die einleitenden Worte: Das öffentliche Bild von Dörfern und Kleinstädten als reaktionäres Nesthockeridyll und antiurbane Parallelwelt sei ein Klischee. Es habe mit der komplexen Realität in Gemeinden unter 20 000 Einwohnern kaum noch etwas gemein. Die Austauschprozesse zwischen Land und Stadt, die schon lange durch Pendler, Discofahrten und den Tourismus befördert wurden, haben durch digitalisierte Kommunikation und zusammenwachsende Siedlungsgebiete an Dynamik gewonnen. Und damit verliere die klassische Opposition von Stadt und Land an Bedeutung: Weder schaffen viele Menschen auf einem Fleck automatisch fortschrittliche Verhältnisse noch Bürger in der Fläche prinzipiell homogene Gemeinschaften.

Dass diese Vorrede so vielen Teilnehmern so wichtig erschien, weckte beim Zuhören natürlich den Verdacht, dass die Gegensätze vielleicht doch noch nicht so eingeebnet sind, wenn man sie ständig kleinreden muss. Aber bereits Hannah Hurtzigs Expertenschwarzmarkt, den sie seit vielen Jahren zu den unterschiedlichsten Wissensthemen veranstaltet, bot als Einleitungsveranstaltung ein reiches Mosaik der Themen, die auf dem Land angesiedelt sind und trotzdem mit den zentralen Problemen der Welt zu tun haben. 60 Experten zu so unterschiedlichen Bereichen wie Gothic-Kultur und Kinderprostitution, Bienen und Wölfen, rechten Wehrdörfern und Innovation in der Landwirtschaft lieferten hier in 168 Einzelgesprächen fuderweise Gründe, warum das Land kein Lokalthema bleiben sollte.

Natürlich steht an der Spitze der Zusammenhänge, die hier besprochen wurden, die verdrängte Katastrophe, die der gedankenlose Fleischkonsum befördert. Nicht nur durch die gigantische Produktion von Klimagasen, die großflächige Zerstörung von Wäldern und Ökosystemen sowie die fortschreitende Vergiftung des Grundwassers durch Gülle ist Fleischproduktion eines der bedrohlichsten Menschheitsprobleme überhaupt. Die Bereitstellung von Billigfleisch für die Supermarktregale, Kantinen und Restaurants führt auch zu einer immer industrielleren Landwirtschaft mit automatisierten Riesenbetrieben und Maisfutterfeldern bis zum Horizont, die dem Leben im kleineren Rahmen die ökonomische Grundlage entziehen.

Die daraus resultierende Landflucht vor allem der Jungen, aber in ihrem Windschatten auch der "Empty Nester" und Senioren, gibt dem Strukturwandel auf dem Land an vielen Stellen den Anblick eines epidemischen Verfalls. Über die richtigen Reaktionen darauf sind die Experten dann extrem unterschiedlicher Meinung. Fordert etwa die Göttinger Soziologin Claudia Neu eine Grundgesetzänderung, die die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse im ganzen Land als Gemeinschaftsaufgabe festlegt, sodass Unmengen an Subventionen für Ärzte, Schulen und Infrastruktur in absterbende Siedlungsgebiete fließen können, wünscht sich der Direktor des Berliner Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, Reiner Klingholz, das originelle Gegenteil: eine Rückkehr zu lokalen Selbstversorgungsprinzipien und die Abschaffung von gesetzlichen Standards, damit von der Freiwilligen Feuerwehr bis zur Zwergschule Kleinsteinheiten im dörflichen Rahmen wieder möglich werden - inklusive der Forderung, nicht lebensfähige Kommunen sterben zu lassen.

Auch zwischen Wissenschaft und Politik klaffen enorme Bewertungsgräben, etwa beim Thema "Gebietsreform". Felix Rösel vom Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung in Dresden lieferte hier die vielleicht klarste Lehrstunde für kontraproduktive Politik. Zahllose Studien haben unisono nachgewiesen, dass die Schaffung von Großgemeinden, die in Deutschland aus angeblichen Effizienzgründen seit Jahrzehnten gegen den Widerstand der Bevölkerung durchbefohlen wird, keinerlei positive Resultate zeigt - weder wirtschaftlich noch kostentechnisch. Dagegen fördert die Zentralisierung der Selbstbestimmungsorgane in den Städten einen enormen Demokratieverdruss, weil die Institutionen lokaler Mitbestimmung auf dem Land seit den Neunzigern in einem Maß ausgelöscht wurden, dass den Menschen der Populismus attraktiver erscheint als die Demokratie, an der sie nicht mehr konkret teilhaben können.

Übernormierung und Bedenkenträgerei verhindern überall kreative Ideen

Nahezu jedes Thema des extrem vielfältigen Kongresses in Halle stieß irgendwann zwangsläufig auf das deutsche Regime der Normen und Bedenkenträger sowie dessen Effizienzideologie als zentralem Krisenverursacher. Von einem Brandschutz, der mittlerweile völlig abgekoppelt von Erfahrungswerten kreative Ideen mit absurden Vorschriften erstickt, über Ämter, die lieber Häuser ihrer Altstädte verfallen lassen, als sie Jugendlichen zu geben, damit sie dort ihre Kultur verwirklichen, bis zu unflexiblen Verwaltungen, die Integration von Zuwanderern nicht als Querschnittsaufgabe diverser Ressorts begreifen, sondern allein an die Sozialämter delegieren, war technokratisches Versagen das Leitmotiv dieses energischen Appells zur Umkehr.

Hanka Giller, Leiterin des Jugendamtes von Saalfeld, die dort ein beeindruckendes Projekt für Zuwanderer im ländlichen Raum organisiert, beschrieb die Alternative retrospektiv: "Die wunderbarste Zeit war direkt nach der Wende. Die Gesetze waren unklar, es gab eine Menge Quereinsteiger, und man handelte pragmatisch." Und aus dieser von vielen Teilnehmern geteilten Erfahrung, dass Verantwortungsgemeinschaften die besseren Lösungen liefern als Beamtengemeinschaften, wurde dann auch der Schlachtruf dieses Kongresses geboren: "Wir brauchen mehr konstruktive Anarchie", forderte ein Teilnehmer unter dem Applaus der Experten. Und dieser hoffnungsvollen Parole kann sich heutzutage sicherlich auch der eingefleischteste Städter anschließen.

© SZ vom 24.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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