Proteste in Frankreich:Nestwärme am Verkehrskreisel

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Demonstranten in gelben Westen haben in einem von ihnen blockierten Kreisverkehr vor der Ölraffinerie La Mede ein Lagerfeuer entzündet. (Foto: Claude Paris/dpa)

Frankreichs Intellektuelle debattieren über die Bewegung der Gelben Westen. Deren Mitglieder erproben ein neues Modell des Sozialdialogs.

Von Joseph Hanimann

Das Warnwesten-Gelb des Protests schien in den letzten Wochen über Frankreich zu erblassen und nur in den Aktionen eines harten Kerns Unbeugsamer weiterzuflimmern. Nach dem unerwartet hohen Zulauf der Demonstrationen zum Jahresbeginn und der trotz Gewaltauswüchsen nach wie vor hohen Sympathie in der Bevölkerung drängt sich aber die Frage auf: Überzieht diese Farbe der Heiterkeit und des Glücks, aber auch des Griesgrams und des Neids nun dauerhaft das stolze Blau-Weiß-Rot der Republik? Anders gefragt: Wird dieser Protest vom Elan einer vergnügten Kampflust oder eher von einer Welle finsterer Verbissenheit getragen, unter der die Nation anderthalb Jahre nach dem Präsidentschaftswechsel in ihre lähmende Unschlüssigkeit zurücksinkt?

Das sei eine gesellig vergnügliche Auflehnung des Volks, finden manche. Die heiteren Mienen der Gelbwesten auf den Verkehrskreiseln, wenn sie die hupenden Autofahrer vorbeiwinken, seien Ausdruck einer "glücklichen, ja glücklichen Revolte", schreiben Jean-Pierre Barou und Sylvie Crossman in einem Gastbeitrag für Le Monde. Barou und Crossman sind die Gründer jenes südfranzösischen Kleinverlags, in dem vor acht Jahren Stéphane Hessels Aufruf "Empört euch!" erschien. Und sie sind überzeugt, die das ganze Land überziehende Bewegung sei eine Spätwirkung jenes Büchleins, das den greisen Autor damals über die "Occupy"-Bewegung international zur Symbolfigur eines so tatkräftigen wie friedfertigen Aufstands gemacht hat.

Andere hingegen wie der Intellektuelle Jacques Julliard sehen in der Bewegung trotz ihrer begreiflichen Motive vor allem die grimmige Miene eines kollektiven Ressentiments der Zurückgebliebenen gegen alles, was ihnen nicht ähnlich sieht. Nichts habe das zu tun mit der Freude an der Volksfrontregierung 1936 oder mit dem Humor von 1968, meint Julliard, und eher als ans edle Menschheitsideal des Revolutionärs Camille Desmoulins erinnere das alles an die Grobheiten des Pamphletisten Jacques René Hébert und seiner revolutionären Hetzschrift des "Père Duchesne".

Der Politologe Bernard Badie warnt vor einem Abgleiten der Proteste in eine rechtslastige Richtung

Da sind sie also wieder, die hoch gegriffenen Vergleiche mit den großen Geschichtsdaten, die die Aktionen der Gelbwesten begleiten. Zum ersten Mal zogen am vorigen Sonntag auch ein paar Hundert Gelbwesten-Frauen durch Paris in Erinnerung an den Marsch der Pariser Frauen 1789 nach Versailles. Ihnen gehe es nicht ums Kaputtschlagen historischer Bauwerke, erklärten sie, sondern darum, dass wieder etwas Rechtes in die Kochtöpfe komme.

"Révolution" hieß auch das Buch, mit dem Emmanuel Macron vor zwei Jahren statt eines Programms zur Präsidentschaftswahl antrat. Und es ist, als schlüge auf paradoxe Weise seine eigene politische Logik nun in den Protesten von unten auf ihn zurück. Er war praktisch aus dem Nichts aufgetaucht, hatte keine Partei, wollte sich weder links noch rechts festlegen und versprach, durch eine "tief greifende demokratische Revolution" die Nation aus ihrer Starre zu führen, denn, so schrieb er im Buch, "die Zivilisation, auf die wir uns zubewegen, ist die einer Gesellschaft ohne klare Umrisse, bestehend aus unablässigen weltweiten Waren-, Geld-, Kommunikations- und Menschenflüssen".

Sein Modell war das einer Revolution von oben herab durch eine Kombination aus vertikaler Machtstruktur ohne Zwischeninstanzen in Form von Parteien, Gewerkschaften, Lokalpolitik und einer horizontalen Machtausübung in der Art eines Start-up-Unternehmens. Dieses Modell wurde im Land zunächst zwar nicht begeistert, aber doch neugierig aufgenommen, zumal der Präsident es in wirksame Geschichtsbilder von Jeanne d'Arc bis de Gaulle zu kleiden vermochte.

Nach gut einem Jahr des Verharrens in der Schwebe dieser Vision ist das Land nun auf dem harten Boden der politischen Realität gelandet. Ein über Jahrzehnte im Schatten der Globalisierung entstandenes System der sozialen Ungleichheit konnte nicht wie durch ein Wunder beseitigt werden. "Der Höhenflug eines Wunderkinds endet im Parterre einer missmutigen Mittelschicht", bemerkt bitter der Philosoph Alain Finkielkraut. Und plötzlich wird auch offensichtlich, wie allein dieser Präsident ohne Partei, ohne Tuchfühlung zu den bestehenden Institutionen und Organisationen im Grunde ist. Das Auswechseln der im Herbst zurückgetretenen prominenten Minister war ein Gewürge im engen Kandidatenkreis, mit nicht wenigen Absagen.

Dem direkten Legitimitätsanspruch des vereinsamten Präsidenten, der in einer kuriosen Notaktion mit einem "Brief an alle Franzosen" in der nächsten Woche sich auf Augenhöhe des Volks zurückversetzen will, antwortet das Volk mit demselben Anspruch auf uneingeschränkte Legitimität. Die Parteien von ganz links bis ganz rechts werden auf Distanz gehalten, die Gewerkschaften sind ausgeschaltet und selbst die Wortführer in den eigenen Reihen werden von den Gelbwesten sofort zurückgepfiffen. Das ist die französische Variante jener Legitimationskrise, die auch in anderen Ländern das Modell der repräsentativen Demokratie trifft. Auffallend ist dabei, wie schwer im Falle Frankreichs in diesem Zusammenhang der Begriff des Populismus über die Zunge kommt. Kaum jemand wagt ihn angesichts dieser zwischen den politischen Doktrinen schillernden Bewegung auszusprechen.

Das Hupen der Vorbeifahrenden ist nicht in allen Fällen spontane Solidaritätsbekundung

Der Politologe Bernard Badie, Mitherausgeber des Buchs "Le retour des populismes", warnt vor einem möglichen Abgleiten der gegenwärtig noch offenen Proteste in eine rechtslastige, fremdenfeindliche Richtung, muss aber gleichzeitig zugeben, dass der meistens damit verbundene Ruf nach einem starken Mann bisher vollkommen fehlt. Im Gegenteil. Die widersprüchliche Forderung der Gelbwesten an Macron, sie anzuhören und abzutreten, und zwar beides gleichzeitig, nicht alternativ, klingt ganz nach der von Macron selbst oft aufgestellten Theorie einer ambivalenten Zentralposition der Macht in der Republik, auf welcher man den König zugleich umschwärmt und exekutiert.

Wie der Präsident aus der gegenwärtigen Lage herausfindet, wird wesentlich davon abhängen, wie er auf die widersprüchlichen Erwartungen der Protestierenden einzugehen versteht. Dabei ist der genaue Inhalt der Forderungen vielleicht gar nicht so entscheidend. Was über die sozialen Medien ähnlich wie bei so vielen anderen Protestbewegungen seit dem "Arabischen Frühling" mit konkreten Forderungen begann, zeigt hier plötzlich eine ganz neue Seite. Die Kleinunternehmer, Teilzeitangestellten, Hausfrauen, Arbeitslosen, Studenten und Rentner, die sich in den liebevoll gezimmerten Verschlägen mit Kaffeeküche und blau-weiß-roter Flagge davor seit zwei Monaten auf den Verkehrskreiseln zusammenfinden, haben eine Form von unmittelbar menschlicher Nähe zueinander gefunden, an die sie in ihrer jeweiligen Vereinsamung gar nicht mehr glaubten. Denn soziale Gräben sind im heterogenen Frankreich mehr als anderswo zunächst geografische Gräben zwischen Ballungszentren und Abgeschiedenheit.

An diesen improvisierten Orten des Zusammenseins entdeckten viele eine ungeahnte Nestwärme, wo man Facebook plötzlich vergisst, wo Politik nicht mehr am Fernsehen, sondern im täglichen Hin und Her der Argumente stattfindet und wo jedes Autohupen wie eine Anerkennungsbotschaft an das eigene Dasein klingt. An diesen Orten probt Frankreich gerade ein neues Modell des sozialen Dialogs, mit sehr ungewissem Ausgang.

Das Hupen der Vorbeifahrenden ist nicht in allen Fällen spontane Solidaritätsbekundung, sondern oft ein leeres Ritual, um an den rabiaten Wachposten vorbei unbehelligt über den Kreisel zu kommen. Frankreich, das in seiner höfischen Glanzzeit die Kunst der Konversation erfunden habe, habe immer noch nicht zu jener des Sozialdialogs gefunden, klagt Jacques Julliard. Und die Karten dafür sehen für das Land wieder ziemlich ungünstig aus.

© SZ vom 11.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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