Privatsammlungen: Öffnung einer Schatzkammer

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Bisher war eine der bedeutendsten Privatsammlungen Italiens, die "Collezione Cerruti", nur Kennern zugänglich. Seit einer Woche ist die Villa ein Museum.

Von Alexander Hosch

Nein, nein, nein. Mit dem bekanntesten Italiener namens Cerruti, dem Modedesigner, hat dieser Sammler gar nichts zu tun. Ganz andere Familie, sagt Carolyn Christov-Bakargiev, die Chefin des Museums für zeitgenössische Kunst Castello di Rivoli, die jetzt auch Direktorin der Collezione Cerruti ist. Denn während Nino C. eine Stofffabrik in Biella erbte, stammt das Geld, das Francesco Federico Cerruti für Kunst und Antiquitäten ausgab, von einer Turiner Buchbinderei, die Kunstbücher zauberte. Und dazu noch 200 000 Telefonbücher jeden Tag. Es blieb genug Geld übrig, um Dutzende von Goldgrund- und Renaissancegemälden zu kaufen, aber auch viele Im- und Expressionisten bis hin zu Pop Art Warhol und Arte Povera. Dazu Möbel von Rokoko-Ebenisten, Porzellanfigürchen, Bacarat-Gläser, chinesische Skulpturen, Vorzugsausgaben der besten Buchbinder seit 1500.

Normalerweise enden solche Geschichten damit, dass eine reiche Familie ihr Erbe bestellt, indem sie den Staat auffordert, ihr dafür ein Museum zu bauen. Hier wird es nun besonders. Denn die bis jetzt nur den Connaisseurs zugängliche Collezione Cerruti ist nicht mehr privat. Sie ist seit einer Woche sichtbarer Teil eines größeren Ganzen. Die Zeit der Sammler, auch die der Kuratoren sei vorbei, findet Christov-Bakargiev auf einer kleine Führung durch die Villa. "Wir setzen auf die Zukunft und blicken aus der Aktualitäts-Perspektive auf die 500 Meter entfernte Villa mit den Schätzen der Vergangenheit. So etwas gibt es bis jetzt nicht. Damit holen wir das Sammlermuseum ins öffentliche Museum", so die documenta-Leiterin von 2013.

Der Unternehmer Cerruti, der 2015 mit 93 Jahren starb, gab seine Stiftung mit den vielen Sammlungen ausdrücklich in die Hände der Öffentlichkeit. Das Castello Rivoli der Region Piemont baute, quasi als Treuhänder, die private Villa in einen per Shuttle vom Hauptbau aus zu erreichenden Stützpunkt um. Sie ist nun viel mehr als nur ein Mausoleum für einen Individualisten und seinen Luxusgeschmack. Für die Italo-Amerikanerin CCB (so nennt sie sich manchmal selbst) steckt hier auch diese Idee drin: Die Abkehr von Funktionären der Kunst, denen gehuldigt werden muss, während sie allen normalen Kunstbetrachtern eher im Weg stehen. Mitte Mai, als die Kunstwelt wegen der Biennale ohnehin in Norditalien war, eröffnete das Castello in den Hügeln von Turin jetzt seine neue Schatzkammer vor der Kulisse der Alpen.

Ein Blick in das Innere der Villa Cerruti mit einer kleinen Auswahl ihrer Sammlung. (Foto: Antonio Maniscalco)

Wer war dieser Francesco Federico Cerruti? Vor allem wohl ein sehr scheuer Mann. Er lebte für seine Arbeit, die Buchbinderei. Jenseits davon liebte er die Künste. Für sie richtete er in den Hügeln bei Turin ein Refugium ein: In einem Haus "im provencalischen Stil", das er in den Sechzigern für seine Eltern errichtet hatte, die darin aber nicht wohnen wollten. Christov-Barkagiev hat den Eigenbrötler noch kennengelernt. Und einige seiner Mysterien. Er legte neben der Villa einen Fischteich an - aber ohne Tiere. Er besorgte einen Billardtisch - ohne je zu spielen. Vom Bildhauergenie Verrocchio kaufte er einen Blumentopf, den er dann neben Varia in einen rätselvollen Hortus conclusus stellte. Er traf nie Künstler. Er wohnte ein Leben lang in einer kleinen Wohnung neben der Turiner Fabrik. Hingegen hat er nur eine einzige Nacht im Landhaus geschlafen. Er speiste aber wöchentlich dort - allein, umgeben von Orchideen, die er sammelte, und von acht Gemälden Giorgio de Chiricos, der ihm wohl am wichtigsten von allen war. Im "Turmzimmer" wollte er sterben (was aber nicht gelang). Altäre mittelalterlicher Meister umstehen dort das Bett.

Die Kuratoren haben dieses Privatmuseum gesehen - und bewahrt. Alles erinnert an die Studiolos, in denen Renaissanceherrscher Forschern und ausgewählten Freunden ihre Preziosen zeigten. Nur im Keller ist es neutraler - dort fanden rund 50 weitere Gemälde Platz. Die Außenansicht der Villa wurde mit Cortenstahlelementen ergänzt. Was die Menschen sehen werden, die ab jetzt in kleinen Gruppen fünfmal am Tag hierher kommen, kennt in Europa nicht leicht seinesgleichen: Eine Schmuckschatulle in Form einer verschachtelten Wohnung, die unter anderem Hauptwerke von Agnolo Gaddi, Pontormo, Renoir, Modigliani, Picasso, Klee, Kandinsky, Magritte, Miro, Sisley und Bacon bereithält. Sie hängen in engen Treppenhäusern neben- und übereinander, vor Bücherregalen, zwischen Rokokomöbeln und einigen hundert von Künstlern gestalteten Erstausgaben von Camus und Proust oder den ersten Atlanten der Welt.

Was Italien im 20. Jahrhundert betrifft, scheint die Sammlung sogar einzigartig: CCB findet, dass hier die besten Gemälde von Morandi, Severini, Boccioni überhaupt hängen. Fragt man, ob Cerruti nicht auch ein Allessammler war - es gibt sogar einen Weinkeller! -, sagt sie: "Falsch, niemand hat so präzise gesammelt wie er!"

Hier muss sich aber noch ein Kreis schließen. Denn die moderne Residenz, die einen etwas fuggerhaften Reichtum vorführt, wäre doch nur ein Sammlungsort eines wohlhabenden Individuums, wenn sie nicht daneben in der großen öffentlichen Kollektion des Castello di Rivoli ein Pendant fände. Bei der Hülle handelt es sich um ein versailleshaft angelegtes Schloss des Barockarchitekten Filippo Juvarra für die Herrscher von Savoyen, das aber nie fertig gestellt wurde.

Der Sammler Francesco Federico Cerruti ließ die Villa im „provenzalischen Stil“ errichten. (Foto: Antonio Maniscalco)

In dieser wundervolle Bauruine eröffnete 1984 das erste Museum Italiens für zeitgenössische Kunst. Die von einem Großteil ihrer Ausstattung befreiten Hallen werden seither von den Säulenheiligen der Konzeptkunst seit 1960 bespielt. LeWitt, Penone, Cattelan, Burri, dazu gibt es aktuelle Einzelschauen von Hito Steyerl oder Anri Sala. Und das Rad dreht sich weiter. Im Hauptbau sind die ersten Arbeiten von aktuellen Künstlern zu sehen, die im Auftrag des Museums Fäden zur Collezione Cerruti spinnen sollen.

Francesco Federico Cerruti teilte sein Leben abseits der großen Gesellschaften zwischen Arbeit und Kunst auf, die er aber nie bei den Künstlern kaufte, nicht einmal wenn diese quasi nebenan ihre Ateliers hatten. Er kaufte in Galerien, bei Antiquitätenhändlern oder aus den Katalogen der Auktionshäuser. So gut wie nie ließ er sich beraten. Nur sein eigenes Auge zählte. Die New York Times verbreitete gerade einen geschätzten Wert der Cerruti Collection von 600 Millionen Euro. Das könnte noch zu wenig sein. In jedem Fall gewinnen die rund tausend Meisterwerke, die da jetzt in einer rätselhaften Villa bei Turin versammelt sind, dadurch eine ähnlich märchenhafte und spektakuläre Aura wie die Frick oder die Barnes Collection. Dazu passt das kurioseste Exponat: Cerrutis handgeschriebener und völlig ernst gemeinter Wunschzettel mit den Dingen, die ihm noch fehlten: ein Vermeer, ein Mantegna ... und ein Hieronymus Bosch!

© SZ vom 18.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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