Preußen nach Napoleon:Unendliche Kräfte

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Jürgen Luh: Der kurze Traum der Freiheit. Preußen nach Napoleon. Siedler Verlag, München 2015. 239 Seiten, 24,99 Euro. E-Book 19,99 Euro. (Foto: verlag)

Es war ein "Kurzer Traum der Freiheit" ... Mit großer Wärme erzählt Jürgen Luh eine Geschichte der Stein-Hardenbergschen Reformen. Sie haben Preußen nach der Niederlage gegen Napoleon wieder aufgebaut.

Von Stephan Speicher

Nun liegt der Jahrestag der Schlacht von Waterloo schon wieder ein gutes Stück zurück, das Geschäft der Erinnerung an die napoleonische Ära ist längst abgewickelt. Stark hat es die Deutschen nicht bewegt. Aber was doch bemerkenswert ist: Wie wenig man sich der "Reformzeit" erinnert hat, vor allem der preußischen, der Stein-Hardenbergschen Reformen. Sie galten bis in die 1980er-Jahre als ein Kern der deutschen Geschichte; in die Gesellschaft hineinwirkende Historiker wie Droysen und Pertz, Meinecke und Gerhard Ritter haben ihm Bücher gewidmet. Noch bei Golo Mann und Thomas Nipperdey spürt man, dass dieser Gegenstand sie berührte, dass sie in dem Willen der Reformer, die Selbsttätigkeit der Bürger zu stärken, ein frühes republikanisches Moment erkannten.

Da hat sich etwas geändert. Die möglichen Gedenktage seit 2006 sind sang- und klanglos verstrichen. Bauernbefreiung, Städteordnung, Bildungsreform, Judenemanzipation, allgemeine Wehrpflicht - keine öffentliche Reaktion. Dass Christopher Clark in seiner Geschichte Preußens die Reformzeit als "so reich an Versprechungen und so arm an Ergebnissen" beurteilt, das hat Gründe. Aber auch der kühle Ton unterscheidet seine Darstellung von älteren, die deswegen nicht unbedingt im Borussismus schwelgten.

Doch jetzt, nachdem all die denkbaren Zweihundertjahrfeiern nicht begangen wurden, ist ein Buch erschienen, das sich der Epoche noch einmal annimmt: "Der kurze Traum der Freiheit. Preußen nach Napoleon". Der Autor, Jürgen Luh, hat vor drei Jahren ein Buch über Friedrich II. geschrieben, das um seiner Nüchternheit willen allgemein gerühmt wurde. Das neue Buch aber ist mit großer Wärme geschrieben. Es erzählt noch einmal die alte Geschichte vom tiefen Sturz Preußens in den Schlachten von Jena und Auerstadt 1806 und seinem Wiederaufstieg. Von Napoleon waren auch andere Armeen geschlagen worden, aber die Schnelligkeit und Widerstandslosigkeit, mit der Preußen sich aufgab, schockierte: "So mausetodt an einem einzigen Tage".

Der Frieden war hart. Die Monarchie verlor einen Großteil ihrer Territorien, die auferlegten Kontributionen waren außerordentlich hoch. Vermutlich hat Napoleon kaum einen seiner Gegner so verachtet wie Preußen. "Feige und eitel" sei das Volk, der König, Friedrich Wilhelm III., beschränkt und tatenlos. Die Quadriga vom Brandenburger Tor, aber auch Degen und Schärpe Friedrichs des Großen nach Paris zu schaffen, das war eine besondere Demütigung. In dieser Situation berief der preußische König den Reichsfreiherrn vom Stein zum Chef der Regierung. Er ist für Jürgen Luh der Held dieser Zeit.

Luhs Buch ist keine allmählich voranschreitende Geschichte der Reformzeit, es ist ein Großessay, organisiert um eine Deutung des Gemäldes "Triumphbogen" von Schinkel. Luhs These, die einmal ganz geläufig war: Die Französische Revolution hat Europa unter Modernisierungsdruck gesetzt, dem Preußen 1806 nicht gewachsen ist. Der König versagt. Seinen Rückzug ins äußerste Ostpreußen quittieren die Berliner mit dem Vers "Unser Dämel sitzt in Memel". Wenn Staat und Gesellschaft 1813 imstande sind, sich gegen Napoleon zu erheben, ist das das Verdienst der Reformer, vor allem Steins - und weniger das Hardenbergs. Sie haben die neue Zeit begriffen, in den von ihnen angeregten Reformen entfaltet sich eine neue, freiere bürgerliche Gesellschaft. Der König verspricht eine Verfassung, er tut es mehrmals. Doch dieses Versprechen wird er nie einlösen; es ist eben nur ein kurzer Traum der Freiheit.

Die Schattenseiten der Zeit, der aufbrodelnde Nationalismus vor allem, werden nur gestreift

Luh liebt es, mit Zitaten zu arbeiten, die eigene Stimme hält er zurück. So treten die Überzeugungen der Reformkreise in ihrem idealistischen Schwung wie von selbst vor den Leser. Sie sehen die Ursache des Zusammenbruchs im Maschinenhaften des alten Staates und seiner Armee, weil "kein Geist diesen Körper belebt habe". Die Monarchie habe auf das "Emporragen" des Militärs gesetzt, so hätten Soldat und Bürger einander gehasst. Dem Theologen und Philosophen Schleiermacher fällt die "Trennung des Einzelnen vom Staat und der Gebildeten von der Masse" auf; sie sei zu groß gewesen, "als dass Staat und Masse etwas hätten sein können." Die neue Zeit setzt Vertrauen in das Volk, auch in die niederen Stände. "Welche unendlichen Kräfte schlafen im Schoße einer Nation unentwickelt und unbenutzt!" glaubt Gneisenau. Das intellektuelle Glück jener Jahre liegt im Vertrauen, dass die Freiheit des Einzelnen und die Stärkung des Staates ineinandergreifen. er Optimismus muss etwas Berauschendes gehabt haben, zumindest für die, die den Vordenkern zu folgen imstande waren. Eine neue Welt, so heißt es bei Fichte, sei zu schaffen "als Erzeugungsmittel eines neuen Selbst und einer neuen Zeit". Ein protodemokratisches Denken artikuliert sich hier, das war wohl auch ein Grund, warum diese Ära so lange in besonderem Ansehen stand. Eine Frage ist allerdings, wie stark dieses Denken auf Staat und Gesellschaft gewirkt hat. Mit seiner sympathetischen Zitattechnik überspielt Luh diese Frage. Aber er meint auch, dass die Nation die neuen Forderungen aufgenommen habe. Als 1813 der Krieg gegen Napoleon aufgenommen wurde, da sei es ein echter Volkskrieg geworden, gerade so, wie von Körner gedichtet: "Es ist kein Krieg, von dem die Kronen wissen." Das ist in den vergangenen Jahren stark bestritten worden: Zuletzt seien die Feldzüge der Jahre 1813-15, aller Propaganda unerachtet, doch Kabinettskriege gewesen. Dem muss man nicht folgen. Doch dass Luh diese Debatte nicht aufgreift, dass er zu seinen Lesern spricht, als hätte es diese Einwendungen nicht gegeben, das ist einfach zu wenig.

Die Neigung, die der Autor seinem Gegenstand bewahrt hat, ist ja nicht unverständlich. Aber es ist eine Neigung, die sich nicht durch die Kritik gearbeitet hat, die zwischendurch geübt wurde. Die Figur des Freikorpsführers Ferdinand von Schill, wie hier davon erzählt wird - oder richtiger: wie der Autor aus einer alten Biografie zitiert -, erscheint in vollem romantischen Glanze. Die Schattenseiten der Zeit, der aufbrodelnde Nationalismus vor allem, werden dagegen nur gestreift. Gut möglich, dass die mit dem Wiener Kongress einsetzende Restauration, zu der das gebrochene Verfassungsversprechen gehört, die Pathologien des 19. Jahrhunderts erst ausgebrütet hat. Aber darüber wäre anders zu sprechen, nicht allein mit den Stimmen der Helden dieser Zeit.

© SZ vom 13.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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