Positionen und Präpositionen:Vom Nutzen schlechter Sprache: Angela Merkels Deutsch

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Während die Bundeskanzlerin die Karriereleiter in den letzten Jahren behende empor geklettert ist, verschwand ihre einst angenehme Ausdrucksweise irgendwann im grammatikalischen und rhetorischen Sumpf des Polit-Geschäfts.

Franziska Augstein

Angela Merkel freut sich zu Recht darüber, dass sie nicht mehr in der DDR lebt. Ja, ihre Freude scheint stetig zuzunehmen. Je höher sie die Karriereleiter hinangestiegen ist, um so nuancenloser redet sie über die DDR.

Lost in Translation: Angela Merkel (Foto: Foto: dpa)

Noch im Jahr 2000 erzählte sie in einem Interview, dass sie zu DDR-Zeiten gern Weihnachtsfeiern ausgerichtet und als FDJ-Sekretärin Freude daran gehabt habe, "Theaterveranstaltungen, irgendetwas Gemeinschaftliches, zu machen". Sie glaube, fügte sie an, "dass ich mich da nicht über die Maßen verbogen habe". Heute spricht sie anders, in ihrer Regierungserklärung sagte sie: "In der DDR konnte man erleben, wie bei einer Beschränkung der Freiheit auch die gesamte Ausdrucksstärke des Menschen abnahm."

Was die Ausdrucksstärke angeht, ist Angela Merkel allerdings ein Beispiel für die gegenteilige Entwicklung. Noch in den ersten Jahren nach der Wende hat sie ein unverstelltes Deutsch gesprochen: Ihre Sätze waren meistens klar, und für Dinge, die verschieden sind, fand sie unterschiedliche Wörter. Heute, nach 15 Jahren im freien Westen, kann davon bei ihren öffentlichen Auftritten keine Rede mehr sein, wovon auch ihre Regierungserklärung beredtes Zeugnis gibt.

Wo unsere Grenzen sind

Der unschönen politischen Aufgabe, wortreich möglichst wenig zu sagen, entledigt Angela Merkel sich, indem sie ihre Sprache auf eine Anzahl sperriger Schlüsselwörter reduziert hat, die sie mehr oder minder wahllos miteinander kombiniert. Auf Grammatik und Semantik kommt es im Zweifelsfall nicht an.

Vielen fällt das nicht auf. Andere, die es aus patriotischen oder kulturellen Gründen ungern sehen, wenn das Deutsche verballhornt wird, finden es ärgerlich. Unbestreitbar ist, dass die sprachliche Unschärfe in den Sätzen der Kanzlerin politischen Nutzen hat.

Angela Merkel sucht Antworten. "Angst ist nicht die adäquate Antwort auf unser christliches Menschenbild", hat sie unlängst in der Katholischen Akademie zu München erklärt. Von zu Hause weiß die Pfarrerstochter: Der gute Christ - zumal der Protestant - sucht stets nach Antworten. Ob sie zu Haus gelernt hat, dass er eine Antwort auf sein Menschenbild begehre, ist zu bezweifeln.

Freilich hatte Angela Merkel in München noch andere Antwort-Sätze parat: In Hinsicht der Biomedizin "ist es mit Sicherheit so, dass wir völlig neue Aufgaben bekommen, Chancen und Risiken gegeneinander abzuwägen und dann auch entschieden für unsere Antwort einzutreten". Und "es ist immer richtig und wichtig in Demokratien, das, was die Menschen beunruhigt, mit einer Antwort zu versehen".

Das ist wohl so. Fragt sich nur, ob der Beunruhigung damit abzuhelfen ist, dass man die Fragen nicht in Betracht zieht, die sich daraus ergeben und die den Satz erst grammatisch sinnvoll machen würden. Es ist ein sehr weites Feld, das Angela Merkel mit der Ankündigung von Antworten bestellt. Sprachlich entsteht dabei ein Morast.

Die Steigerung der Antwort ist die "gültige Antwort". Diese sucht Angela Merkel offenbar, wenn es um besonders schwierige Probleme geht. Auf die "Herausforderungen des Terrorismus" müsse man "gültige Antworten" finden, sagte sie der FAZ. Es ist richtig: Man antwortet auf Herausforderungen. Jede Antwort ist dann naturgemäß gültig. Angela Merkel geht freilich weiter: "Die Menschen in Europa erwarten von uns natürlich, dass sie auf die bestehenden Herausforderungen eine Antwort bekommen."

So wenig Herausforderungen Fragen stellen, so wenig erwarten die Menschen lediglich Antworten. Sie sähen es vielmehr gern, wenn die Politiker - die bei Angela Merkel neuerdings als "die Politik" firmieren - in ihrem Interesse tätig würden. Das ist indes schwierig. In München sagte Angela Merkel: "Die Politik hat sich in den letzten Jahren vielleicht oft dadurch ein bisschen in Misskredit gebracht, weil sie den Eindruck erzeugt hat, sie könne alles lösen. Und das geht nicht. Politik muss auch deutlich machen, wo unsere Grenzen sind."

Was die Kanzlerin sich zuruft

Nicht bloß finden sich diese Grenzen da, wo aus dem Reden Taten folgen sollen, sie liegen schon in der Sprache: Die Kanzlerin möchte volksnah wirken. Sie versucht, rhetorisch keine Schranken zwischen sich und "die Menschen" zu legen. Das ist rechtschaffen, wird aber unwahrhaftig, wenn man mit sprachlichen Bezügen Schlitten fährt: Von wessen Grenzen spricht Angela Merkel, wenn sie sagt "unsere Grenzen"? Von den ihren? Von denen der Wähler? Sie meint vermutlich die Grenzen dessen, was der Bürger vom Staat erwarten kann, verbrämt das aber mit einer unklaren, pseudo-existentialistischen Formulierung.

Neu für sie als Kanzlerin sei, so sagt sie, dass sie nun nicht mehr lediglich für die CDU oder ihren Wahlkreis spreche, sondern für das Land. Das tut sie auf Teufel komm' raus. In ihrer Regierungserklärung berief sie sich auf Willy Brandts Slogan "Mehr Demokratie wagen": "Gestatten Sie mir, diesen Satz heute zu ergänzen und uns zuzurufen: Lassen Sie uns mehr Freiheit wagen."

Jenseits des Bundestages gilt ein Mensch, der sich selbst etwas zuruft, als meschugge. Weil Frau Merkel nun aber für alle Deutschen spricht, tut sie es ohne Rücksicht auf das "individuelle Engagement", das sie sonst immer hochhält: So hat sie Gerhard Schröder "im Namen aller Deutschen" gedankt. Und so hat sie sich auch zugerufen: "80 Millionen Menschen werden, jeder auf seine Weise, stolz darauf sein, dass wir Gastgeber eines solchen Ereignisses sind." Gemeint war die Fußballweltmeisterschaft.

Anlässlich der Rede, die sie jüngst auf Einladung des Deutschen Fußball-Bundes hielt, sagte sie: Viele seiner Aktionen "zeigen, wie sich der Fußball in unsere gesellschaftliche Arbeit einbringt". Als sie bei anderer Gelegenheit über "musische Tätigkeiten" sprach, erklärte sie das Wesen des Künstlerischen ähnlich: "Ich muss meine Expressivität einbringen." Jenseits von Fußball und Kunst stehen die Dinge weniger schön: "Viele Menschen werden heute an ihrem Einsatz, am Einbringen ihrer Möglichkeiten gehindert."

"Möglichkeiten", "Chancen" und "Voraussetzungen" sind die Wörter, mit denen Angela Merkel ihre Wirtschaftspolitik unters Volk bringen will. Von der großen Koalition hat sie sich in ihrer Regierungserklärung gewünscht, "dass sie unserem Land und allen Deutschen neue Möglichkeiten eröffnet, und ich wünsche mir, dass wir diese Chancen auch wirklich nutzen und wahrnehmen".

Man müsse "fragen, was wir gemeinsam besser machen können - ohne uns dabei dauernd mit Schuldigkeiten aufzuhalten". Was sie meint, ist klar: Die Koalitionspartner sollen einander nicht die Schuld für Versäumnisse zuweisen. Gesagt hat sie indes etwas anderes: Das Wort "Schuldigkeit" ist dem Wort "Pflicht" verwandt, bei ihrer Pflicht und Schuldigkeit sollte eine Regierung sich durchaus aufhalten.

Im Herbst hat Frau Merkel "wachsende Zustimmung in unsere Politik" konstatiert: "Das ist wichtig, denn der Vertrauensverlust in die Politik insgesamt hat zugenommen." Ob die Zustimmung wirklich wuchs, sei dahingestellt. Sicher ist, dass die Lobby der Präpositionen eine Person, die so redet, nicht gewählt hätte. Im Deutschen hat man Vertrauen auf eine Sache, man hegt Zustimmung zu einer Sache. Vertrauensverlust kann man nur ohne besonderen Bezug feststellen, mehr ist leider nicht möglich.

"Die Umwelt erholt sich, die Infrastruktur ist ausgebaut", und die Ostseeautobahn in Mecklenburg-Vorpommern sei fertiggestellt, sagte Angela Merkel in ihrer Regierungserklärung. Diese wenig mitreißende Aufzählung beschloss die Kanzlerin mit den mausgrauen Worten: "Auch sonst bietet unser Land großartige Voraussetzungen, die wir nun endlich nutzen sollten."

Bedauerlicherweise sehen das nicht alle so, das weiß auch Angela Merkel: "Die meisten Menschen haben nicht den Eindruck, dass wir heute über die Möglichkeiten verfügen, weltweit das zu vertreten, was uns an sozialem Ausgleich der freien Wirtschaft - in Form der sozialen Marktwirtschaft - wichtig ist, sondern sie haben Angst, dass davon für sie nichts mehr übrig bleibt." Auch dieser Satz stammt aus ihrer Regierungserklärung. Die grammatikalischen Bezüge sind mehrfach unpräzise oder falsch. Schachtelsätze sind Angela Merkels Sache nicht, aber sie sind hilfreich, weil sie zu verschleiern helfen, was sie meint.

Ein Herz für Leistung

Manchmal stolpert sie versehentlich durch einen allzu wahren Satz: "Wir haben heute noch nicht den Zustand erreicht, dass die Menschen, die zum Teil weniger Leistungen bekommen, den Eindruck haben, dass sie wirklich eine zusätzliche Chance erhalten haben." Ja, das ist es, was Frau Merkel und andere sich wünschen: Dass die Leute weniger Arbeitslosengeld erhalten, umstandsloser entlassen werden können und beides als Glücksfall - bei Angela Merkel heißt das "Chance" - erachten, weil sie nun "die Freiheit" haben, sich eine neue Arbeitsstelle zu suchen. Das ist der "Mentalitätswandel", den die Kanzlerin fordert. Und man darf festhalten, dass die deutschen Alt-Kanzler "an dieser Stelle", wie Angela Merkel sagen würde, mit gutem Beispiel vorangehen: Sie sind flexibel, sie nutzen die Möglichkeiten, die ihnen nach der Abwahl geboten werden.

Die Abwahl der neuen Kanzlerin steht noch nicht an. Vorerst will sie "Deutschland wieder die Möglichkeiten eröffnen, die es hat". "Wenn wir ein Land sein wollen, in dem wir ein Herz für Schwache haben, dann brauchen wir auch ein Herz für Leistung." Denn: "So können wir den Starken im Land wieder helfen und dann auch den Schwachen in diesem Lande." Denn: "Deutschland ist voller Chancen, nach innen wie nach außen." Und wir haben "ein sehr konstruktives und nach vorne gerichtetes Klima". Wohl dem Land, in dem das Klima eine Richtung hat!

Dies alles im Sinn, wundert es einen nicht mehr, wenn Angela Merkel dafür eintritt, dass "Zweck und die Idee der Pflegeversicherung auch weiterhin gelebt werden können". Wenn sie "die Schwachen" dafür lobt, dass sie "einen unverzichtbaren Beitrag für sich selbst und unser Gemeinwesen leisten können". Wenn sie betont: "auch die Kranken sollen sich natürlich auf ein zuverlässiges Gesundheitssystem verlassen können". Sie, die "Bildung nach vorn bringen" will, merkt nicht, dass diese Phrasen allesamt grässlich und ziemlich unkultiviert sind.

In einem langen Interview über Kultur und ihr Wagner-Faible hat Angela Merkel gesagt, "viele Menschen" sehnten sich danach, "auch ihr eigenes Stück Kultur zu gestalten". Als Bundeskanzlerin gestaltet sie jetzt ihr eigenes Stück Politik. Das ordentliche Alltagsdeutsch, das sie früher sprach, hat sie gegen ein bejammernswertes Kauderwelsch eingetauscht.

© SZ vom 29. Dezember 2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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