Prog-Rock-Revival:Mit aller Kraft gegen den Spotify-Algorithmus

Prog-Rock-Revival: Die Musik von "Black Midi" fordert uneingeschränkte Aufmerksamkeit - und holt sie sich notfalls mit blutiger Bullenstirn zurück.

Die Musik von "Black Midi" fordert uneingeschränkte Aufmerksamkeit - und holt sie sich notfalls mit blutiger Bullenstirn zurück.

(Foto: Atiba Jefferson)

"Black Midi" und "Porcupine Tree" haben neue Prog-Rock-Alben, die Lärm enthalten, tolle Dissonanzen oder transzendentalmeditatives Fröschequaken. Ob das anstrengend ist? Und wie!

Von Joachim Hentschel

Anstrengend, ja, diese Band ist anstrengend. Sogar ziemlich. Man schickt es besser voraus, als Warnhinweis für alle Verbraucherinnen und Verbraucher, die sich vom überbordenden Kulturangebot der Gegenwart eh schon immer leicht gestresst fühlen.

Die Musik der jungen Londoner Gruppe Black Midi fordert uneingeschränkte Aufmerksamkeit und holt sie sich, falls man sie ihr zwischendurch entziehen sollte, mit blutiger Bullenstirn zurück. Es passiert so viel Unterschiedliches in ihren Songs, es gibt so viel Lärm, Dissonanz und auch Schmalz, rattenscharfes Gedüdel und transzendentalmeditatives Fröschequaken, dass man sich selbst die schönste Playlist mit ihnen restlos ruinieren kann. Der Schriftsteller Nick Hornby drückte es so aus, in einem New Yorker-Artikel von 2000 und über ein damals neues Radiohead-Album: "Alle, die alt genug sind, um wählen zu dürfen, brauchen ihre Zeit für andere Dinge als diese Platte - zum Beispiel, um eine Beziehung zu führen, einem Job nachzugehen, Essen einzukaufen oder einfach eine andere CD zu hören."

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(Foto: ROUGH TRADE RECORDS)

Pop- und Rockmusik dieser progressiven Spielart, so wird seit Jahrzehnten behauptet, spricht eigentlich nur Oberschüler an, die zu wenig Pflichten im Leben haben, oder gealterte, sozial ohnehin schwach aufgestellte Fachspezialistinnen. Wer genau nun "Hellfire" hören soll, das aktuelle und insgesamt dritte Album von Black Midi, wird tatsächlich nicht ganz klar. Gewiss ist aber trotzdem: Man sollte unbedingt dabei sein.

Die drei Musiker, alle Anfang zwanzig, haben hier aus Jazzrock und Hardcore, Flamenco und 20er-Jahre-Boudoir-Pop, rasend schnell gespielten Angeberläufen und herzzerreißender Theatralik ein kleines, krasses Setzkasten-Universum gebaut - das manchmal wie eine bildschöne Wes-Anderson-Inszenierung wirkt, dann wie ein von bösen Filmstudenten kurz geschorenes B-Movie.

Es gibt Kurzgeschichten, etwa über den monströsen Captain, der seinen Minenarbeitern Magensäure abpumpt

Dass die meisten der Songs auf "Hellfire" auch noch veritable Kurzgeschichten erzählen, sonor bebend und oft mit Monty-Python-Zungenschlag gesungen, macht die Platte - je nach Sichtweise - entweder noch lustiger oder noch viel prätentiöser. Da gibt zum Beispiel ein monströser Captain ein Fressbankett für seine Minenarbeiter, um ihnen später die Magensäure abzupumpen, die er für die Herstellung eines speziellen Rotweins braucht. Ein ehemaliger Soldat namens Tristan Bongo entwickelt eine krankhafte Wettsucht, die ihn dazu bringt, für 30 Jahre in eine Pferderennbahn einzuziehen. Und ein bizarrer christlicher Bordellunternehmer kommt im Selbstgespräch zu dem Schluss, dass er zwar seine Bediensteten vor der Hölle rettet, sich selbst aber genau dorthin katapultiert.

Die drei jungen Musiker sind allesamt Absolventen der als Streberschmiede geltenden Musikhochschule Brit School in London. Mit ihren Stücken beweisen sie allerdings exakt die Qualitäten, die hochbegabte, saturierte Virtuosen mit zu guten Zeugnissen nur selten besitzen: Black Midi sind wild, hemmungslos einfallsreich, ab und zu romantisch genug und so spannend und erzählhungrig, dass es einen auch die zwischendurch etwas zu gewollten Fusion-Zappa-WDR-Rockpalast-Gniedeleien ertragen lässt.

Die mit einigem Abstand aufregendste neuere Gitarrenband, und man hört, dass auch sie selbst das wissen.

Aber ist Progressive Rock der richtige Name für das, was Black Midi da mit jugendlichem Esprit spielen? Horden an Plattenladenkunden in schwarz grundierten Band-T-Shirts würden sich stundenlang gern darüber streiten. Man denkt bei dem Genre schließlich an extrem unterschiedliche Bands, an die existenzphilosophischen Pink Floyd, die virtuos aus der britischen Exzentrik-Folklore zitierenden Genesis, die konzertanten Emerson, Lake & Palmer oder die Formforscher King Crimson. Seit den späten 60ern war der Progrock die Musik, die versuchte, den Rock'n'Roll möglichst an alle kulturellen Traditionen anzuschließen. Also nicht nur an den Blues und die Gebrauchslieder der Tanzcafés, sondern auch an alte und neue Klassik, freien und taktgebundenen Jazz.

In den 70ern galt der Progrock als Besserwissertum - heute ist er fast schon antikapitalistischer Appell

"Gute Alben nahmen dich mit auf eine Reise, und sie fielen wirklich aus dem Rahmen, weil sich die Musiker nicht um kommerzielle Vorgaben scherten", sagt der englische Neo-Progrock-Star Steven Wilson in einem Spiegel-Interview von 2013. Die Aussage macht klar, warum das Genre 2022 einerseits so gestrig wirkt, zugleich aber auch einigen revolutionären Zündstoff in sich tragen könnte.

Denn man kann die oft langen, umständlich aufgebauten und aufs erste Hören schwer zu erfassenden Songs durchaus als direktes Gegenmodell zum zeitgenössisch optimierten Spotify-Hit sehen. Das klassische Konzeptalbum, bei dem kein Lied aus dem Zusammenhang gerissen werden darf, ist allein damit schon ein großes Nein an den Shuffle-Play-Algorithmus, der angeblich besser als die Künstler weiß, was die Leute hören wollen.

In den 70ern umschwirrte den Progrock die Aura des Besserwissertums, der Lustfeindlich- und Mythengläubigkeit. Heute dagegen kann man ihn fast schon als antikapitalistischen Appell verstehen, sich ein paar Trollschwerter aus dem Wurzelholz der großen Kunst zu hauen und mit ihnen in den Aufstand gegen die digitalen Großgrundbesitzer zu reiten.

Dazu muss man ihn allerdings in die Gegenwart holen. Und das tut neben Black Midi auch der erwähnte Steven Wilson. Der hat sich nicht nur als Toningenieur und informierter Tausendsassa etabliert, der nach und nach die Werke des Prog-Kanons von Jethro Tull über King Crimson bis Marillion restauriert und in aktuelle Surround-Sound-Versionen überführt. Die Soloalben, die er als Songwriter, Sänger und Musiker produziert, wenden die Prinzipien (mit wechselndem Erfolg) auch auf andere, poppigere Musikgenres an. Und nun hat Wilson auch noch Porcupine Tree wiederbelebt, die Band, die seinen Rang als Klassensprecher begründet hat.

Prog-Rock-Revival: Gloriose Rückkehr mit sieben Songs in 48 Minuten: Steven Wilson (Mitte) und seine Band Porcupine Tree.

Gloriose Rückkehr mit sieben Songs in 48 Minuten: Steven Wilson (Mitte) und seine Band Porcupine Tree.

(Foto: Alex Lake)

Die in den späten 80ern im ländlichen Hertfordshire gegründete Band war zunächst ein eher satirisches Projekt, mit dem Wilson sich über bedröhnte Progrock-Erben lustig machte, die mit Yes-Kassetten im Walkman den Sonnenaufgang in Stonehenge begrüßten. Allerdings wurden Porcupine Tree in kürzester Zeit selbst zu Prog-Ikonen und Vertretern einer deutlich härteren Spielart, waren 2010 die Stars einer umjubelten Gala in der Londoner Royal Albert Hall, stellten dann den Betrieb ein. Jetzt ist mit "Closure/Continuation" doch wieder ein neues Album erschienen, und es ist eine über die weitesten Strecken gloriose Rückkehr.

Mit nur sieben Songs in 48 Minuten und einem bis ins Letzte durchdachten und anspielungsreichen Design kommt "Closure/Continuation" als Progrock-Platte der ganz alten Schule daher, und auch vom Sound her sind Wilson und seine zwei Mitmusiker deutlich näher am britischen Rasengrund der 70er-Jahre als die wild gewordenen Nachbarn von Black Midi. Dennoch erlaubt es ihnen der viel bessere kulturelle Überblick, den die Positionen der Jetztzeit bieten, praktisch alle Peinlichkeiten und eitlen Extravaganzen ihrer Vorfahren zu vermeiden.

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(Foto: Music For Nations/Sony Music)

So beginnt zwar gleich das erste Stück mit einem vertrackten Bass-Solo, aber es kriegt in Windeseile die Kurve zu einem wunderbar polyrhythmisch tanzenden Rocksong - dessen Refrain am Ende nur ein schwerer Schlagzeug-Gitarren-Break ist, der auch noch Ohrwurmqualitäten hat. Man hört wundervolle Melodien auf dieser Platte, aus tiefen Wassern gerettete Sounds wie den des historischen Tasteninstruments Mellotron und eine traumschwere Klangsubstanz, die trotzdem nie ins Schläfrige rutscht. Es würde der Ambition der Musiker widersprechen, die es sich natürlich nicht nehmen lassen, eine fast zehnminütige Suite ans Ende zu setzen und sie auch noch "Chimera's Wreck" zu nennen. Chimera? Man muss sich in die griechische Sagenwelt hineingoogeln, um es zu erfahren.

Wie gesagt: Ein bisschen gesundes Durchhaltevermögen braucht man für so was nun mal. Auf den ersten Platz der deutschen Albumcharts kamen Porcupine Tree mit "Closure/Continuation" trotzdem. Vielleicht muss ja auch der Pop-Algorithmus noch mehr lernen, als er denkt.

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