Polnische Literatur:Ewiger Albtraum

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"Verdrehte Zeit": Der Roman des im Juli verstorbenen Włodzimierz Odojewski erzählt vom Nachleben des polnischen Widerstands.

Von Tobias Lehmkuhl

Eine Widerstandsaktion, die gehörig schiefläuft: Eigentlich soll nur ein Bündel Unterlagen entwendet werden, am Ende sind sechs Widerstandskämpfer, darunter eine Frau, tot. Zwanzig Jahre später taucht die Frau wieder auf. Plötzlich steht sie im Treppenhaus dem Bibliotheksangestellten Waclaw Konradius gegenüber, spricht ihn mit seinem Tarnnamen an und händigt ihm den Befehl des Chefs der Widerstandsgruppe aus: Die Unterlagen zu beschaffen.

Der Held will herausfinden, was 1943 wirklich geschah

"Verdrehte Zeit" heißt der 2002 im Original erschienene Roman des im Juli verstorbenen Włodzimierz Odojewski. Und so macht sich Konradius noch einmal auf den Weg, sucht die Wohnung auf, in der das Unglück damals geschah, sieht einen blutenden Gestapomann, findet tatsächlich das brisante Bündel. Nur: Am nächsten Tag ist alles wieder anders, ist die Straße belebter als 1943 und das Haus wird von anderen Menschen bewohnt. Verdreht und verworren ist nun alles im Kopf des Konradius: Jenen fatalen Tag hatte er eigentlich verdrängt, das traumatische Ereignis, so scheint es, gänzlich aus seiner Erinnerung verbannt. Nur dass er zur selben Zeit in einen Viehwaggon nach Auschwitz gesperrt wurde und durch die morschen Planken entkommen, sich während der Fahrt auf die Gleise fallen lassen konnte, meint er noch zu wissen. Tatsächlich aber war seine Rolle offenbar eine ganz andere, womöglich sogar trägt er Schuld am Misslingen der Operation in der Promienista-Straße.

So gibt er sich als Journalist aus, spricht mit den Hausbewohnern und versucht, die zwanzig Jahre zurückliegenden Ereignisse zu rekonstruieren. Er will herausfinden, was 1943 geschah, obwohl er selbst offenbar der einzige ist, der es mit Gewissheit sagen könnte. Zuweilen fühlt man sich bei dieser Recherche wie in einem Paul-Auster-Roman: Wer ist dieser Waclaw Konradius, welche Rolle spielte er einst? Lebt er überhaupt noch? Oder erlebt er diesen Roman in einer Art körperloser Zwischenwelt als immer wiederkehrenden Albtraum? Das literarische Verfahren ist wohlvertraut, die Konstruktion leicht durchschaubar, auch wenn am Ende keine klare Auflösung steht. Dass schließlich alles "verschwimmt und mir ganz wirr" wird, lässt sich nur schwer nachvollziehen; zu zahm wirkt diese Prosa angesichts ihres blutigen Gegenstands.

Włodzimierz Odojewski: Verdrehte Zeit. Aus dem Polnischen von Barbara Schaefer. Deutscher Taschenbuchverlag, München 2016. 160 Seiten, 18 Euro. E-Book 14,99 Euro.

© SZ vom 02.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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