Politisch-soziologische Essays:Jenseits der Hypersolidarität

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Die Soziologin Eva Illouz verteidigt das Erbe des Zionismus. Ihre gesammelten Essays, zuerst in der Zeitung "Haaretz" erschienen, sind ein Plädoyer für eine innere Neugründung des Staates Israels.

Von Lothar Müller

Den Brandanschlag auf das Haus einer palästinensischen Familie in Numa bei Nablus im Westjordanland, bei dem in der vergangenen Woche ein Kleinkind getötet wurde, hat der Generalsekretär der Vereinten Nationen als "Terrorakt" verurteilt. Kurz zuvor hatte ein eben erst aus der Haft entlassener Ultraorthodoxer bei einer Messerattacke gegen eine Schwulen- und Lesbenparade in Jerusalem eine 16-Jährige so schwer verwundet, dass sie wenige Tage später ihren Verletzungen erlag. Zwei Gewaltmuster, die seit Jahrzehnten immer neue Opfer fordern, sind damit in ein grelles Licht gerückt. Bei dem einen sind die Täter jüdische Siedler in den besetzten Gebieten, die das Eigentum oder gar Leben von Palästinensern attackieren. Bei dem anderen sind Täter wie Opfer Juden: Radikale Ultraorthodoxe attackieren in Tel Aviv, Jerusalem, Haifa oder andernorts diejenigen, deren Gesinnungen oder Lebensstil dem widersprechen, was sie für das jüdische Gesetz halten.

Die Soziologin Eva Illouz, die an der Hebräischen Universität von Jerusalem lehrt, ist mit Untersuchungen zum Verhaltensmuster romantischer Liebe bekannt geworden. Sie ist eine Spezialistin für die inneren Komplikationen moderner Individualität und hat auch deren neuesten Wendungen in dem Essay "Die neue Liebesordnung. Frauen, Männer und Shades of Grey" (2013) verfolgt. Jetzt ist ihr Essayband "Israel" auf Deutsch erschienen, er enthält eine Serie von Artikeln, die zwischen Dezember 2011 und April 2014, also vor dem Ausbruch des jüngsten Gaza-Krieges, in der israelischen Zeitung Haaretz erschienen sind.

Die Artikel sind ein einziges großes Plädoyer für die innere Neugründung Israels als säkularer Staat, der den Juden das Recht auf Selbstbestimmung garantiert, ohne selbst ein "jüdischer Staat" zu sein. Und sie sind eine scharfe Anklageschrift dagegen, dass die Siedler und Ultraorthodoxen ihre starke Stellung in Politik und Gesellschaft Israels nicht zuletzt der Unterstützung durch den Staat verdanken - und der Unfähigkeit der israelischen Mehrheitsgesellschaft, ihre eigenen Interessen gegen die Siedler und Ultraorthodoxen zur Geltung zu bringen.

Dringend gesucht wird eine nicht religiöse Antwort auf die Herausforderungen der Moderne

Die Pointe dieser Kritik an Staat und Gesellschaft Israels aber ist, dass sie ausdrücklich als Verteidigung der Erbschaft des Zionismus formuliert ist. Das unterscheidet Eva Illouz von Israel-Kritikern wie Judith Butler, die aus der Perspektive der Juden in der Diaspora schon die Gründung des Staates Israel als Quelle aller Übel seiner heutigen Politik beargwöhnt.

Jerusalem, Anfang August 2015: Trauer um die sechzehnjährige Schülerin Schira Banki, der während der Gay Pride Parade ein Fanatiker ein Messer in den Rücken rammte. (Foto: AFP)

Eva Illouz verteidigt vehement die Legitimität des Zionismus und das Recht der Juden, in der Antwort auf Exil und Verfolgung das Recht auf staatliche Selbstbestimmung in Anspruch zu nehmen. Ihr zentrales Argument ist: Der Staat Israel, den es zu Recht gibt, muss ein "israelischer" Staat erst noch werden, wenn er eine Zukunft haben soll. Als "jüdischer Staat", der eine einzige religiöse und ethnische Gruppe privilegiert, wird er auf Dauer aus inneren Gründen, unabhängig von der äußeren Bedrohung, nicht lebensfähig sein.

Illouz entfaltet dieses Argument nicht ideologiekritisch, also durch eine Analyse der Glaubensinhalte der Ultraorthodoxen oder der aus religiösen und politischen Motiven genährten Selbstdeutung der Siedler, sondern soziologisch, als Frage nach dem Verhältnis von jüdischer Mehrheit und Minderheiten in Staat und Gesellschaft.

Die Staatsgründung erscheint aus dieser Sicht als riskanter Umschlagspunkt in der Geschichte der Juden: Unendlich erfahren in den Überlebensstrategien als verfolgte Minderheit waren sie schlecht vorbereitet darauf, ein Staatswesen aufzubauen, in dem sie die Mehrheit bildeten. Was im Exil sinnvoll war, die Bewahrung der Identität und Würde des Volkes durch den Glauben und die ethnische Zugehörigkeit und die daraus hervorgehende starke Betonung der Differenz von Juden und Nichtjuden, wird in Israel zum Hemmschuh der Entwicklung eines modernen, an universalistischen Denkweisen und Normen orientierten Gemeinwesens und zum Nährboden der Entwicklung der Religion zur Staatsreligion.

In der nüchternen Diktion der Soziologin klingt dieses Argument so: "Die Instrumente und Strategien, die für das Überleben und die Bewahrung der Identität der am meisten verfolgten Minderheit in der Geschichte geeignet, zweckmäßig und höchst nützlich waren, sind für eine Mehrheit unangemessen, ja sogar schädlich." Die soziologische Diagnose ist aber nur die eine Seite dieser Essays. Die andere - sie gibt dem Buch seine Anschaulichkeit und Lebendigkeit - entspringt der Form des Essays selbst: der Lizenz, "ich" zu sagen. Sie macht, dass in dieser leidenschaftlichen Kritik an der gegenwärtigen israelischen Gesellschaft Zug um Zug ein Selbstporträt der Autorin entsteht.

Es ist, schon nach wenigen Seiten, nicht irgendwer, der hier spricht. Es spricht die 1961 in Marokko geborene, seit 1971 in Frankreich aufgewachsene Tochter einer strenggläubigen sephardisch-jüdischen Familie, die ihrem Glauben sowohl in der Welt des französischen Säkularismus treu blieb, wie in den Vereinigten Staaten, wo sie ab Mitte der Achtzigerjahre an ihrer Dissertation arbeitete und ein anderes Verhältnis von Staat und Religion kennenlernte, in dem eine Vielzahl von Glaubensgemeinschaften in der Öffentlichkeit miteinander rivalisierten. Eva Illouz bewunderte die Varianten des amerikanischen liberalen Judentums, blieb aber selber Teil der "modernen Orthodoxie".

Eva Illouz, 1961 in Marokko geboren, lehrt Soziologie an der hebräischen Universität in Jerusalem. 2011 erschien ihr Buch "Warum Liebe weh tut". (Foto: Susanne Schleyer/ Suhrkamp)

Es gehört zur Einbettung dieser soziologischen Essays in die Biografie ihrer Autorin, dass diese ihren Glauben verliert, als sie nach Abschluss ihrer Dissertation in den frühen Neunzigerjahren nach Israel geht. Zwei Gründe macht sie dafür geltend. Zum einen die Erfahrung der Religion als Staatsreligion: "Weil sie so eng mit den Interessen eines Staates verknüpft war, hatte die jüdische Religion ihre Heiligkeit verloren." Und zum anderen die "säkulare Epiphanie", die sie am Abend des 4. November 1995 erlebte, "als der damalige Ministerpräsident Jitzchak Rabin von einem religiösen Juden ermordet wurde, der glaubte, das Land Israel im Namen einer Interpretation der Thora und Halacha zu verteidigen, die mir völlig fremd war". Seit 1995 gehört das Ich dieser Essays zu den säkularen, liberalen Juden, die in Israel für einen israelischen Staat eintreten, in dem die Staatsbürgerschaft von der religiösen Zugehörigkeit getrennt und dadurch zu einer eigenständigen Identitätsquelle wird. Die Erinnerung an Frankreich ist präsent, wenn ein Essay polemisch das Gedankenexperiment einer israelischen Dreyfus-Affäre durchspielt: "Stellen wir uns vor, ein Araber, der in der israelischen Armee dient, werde der Spionage für ein arabisches Land bezichtigt." Würde er solche Verteidiger finden, wie sie der jüdische Offizier Dreyfus unter den französischen Antisemiten seiner Zeit fand?

Die marokkanische Herkunft der Autorin prägt die Essays über die Diskriminierung der "Mizrachim", der aus Asien, aus arabischen und anderen muslimischen Ländern stammenden Juden Israels gegenüber den aus Europa stammenden Aschkenasen, die Erinnerung an die nordamerikanischen Theorien sozialer Gerechtigkeit, etwa an John Rawls, geht in die Kritik ein, die Illouz an der "seit Langem von den Ultraorthodoxen über die israelische Gesellschaft ausgeübten Tyrannei" äußert, an deren an ein "Kastensystem" erinnernden Privilegien. Das Kriterium der Essays über den prekären Status der Minderheiten und die Techniken der sozialen Diskriminierung in Israel ist einfach: "Ein egalitäres Land beurteilt man besser mit Blick auf seine Eliten als auf seinen Durchschnitt." Nicht, welche Rechte eine Gruppe im Prinzip hat, ist entscheidend, sondern ob es ihr gelingt, Schlüsselpositionen in der Gesellschaft, in den kulturellen, politischen und ökonomischen Eliten zu besetzen.

Gershom Scholem hat Hannah Arendt in seiner Empörung über deren Buch "Eichmann in Jerusalem" (1963) einen grundlegenden Mangel an "Ahabath Israel", an Liebe zu den Juden vorgeworfen. Eva Illouz greift diesen Konflikt auf und begründet ausführlich, warum sie sich der mit dem "Ahabath Israel" begründeten Pflicht zur "Hypersolidarität" mit dem Land, in dem sie lebt, entzieht. Ihre Kritik am "Abdriften" Israels in eine "religiöse Ethnokratie", ihre Forderung an den jüdischen Staat, "eine nichtreligiöse Antwort auf die Herausforderungen der Moderne und des Universalismus" zu finden, haben ihr scharfe Erwiderungen eingetragen.

"Israel" ist ein streckenweise deprimierendes Buch. Seine Lektüre ist dringend anzuraten.

Eva Illouz: Israel. Soziologische Essays. Aus dem Englischen von Michael Adrian. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 240 Seiten, 18 Euro. E-Book: 17,99 Euro.

© SZ vom 06.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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