Poesie & Migration:Sauerstoff für die Leblosen

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Verlieren, Zurückholen, Geben und Nehmen: In Athena Farrokhzads Langgedicht "Bleiweiß" herrscht ein großes Stimmengewirr. Es zeigt, dass man über Emigration, Identität und Assimilierung auch poetisch sprechen kann.

Von Birthe Mühlhoff

Athena Farrokhzads Langgedicht "Bleiweiß" beginnt mit einem schlichten Satz: "Meine Familie war bei ihrer Ankunft marxistisch geprägt". Sofort ist klar, dass es in diesem Gedicht, soeben im Lyrikverlag Kookbooks erschienen, um Fragen von Emigration, Identität und Assimilierung geht - aber nicht nur. Weil da im ersten Satz das Stich- und Reizwort Marxismus fällt, lassen sich einige der darauffolgenden Verse nicht nur als eine Konfrontation kultureller Gegensätze lesen, sondern auch als politische Auseinandersetzung. So heißt es ein paar Zeilen weiter: "Meine Mutter verteilte die Weihnachtsmänner im Haus und wog / die Vor- und Nachteile eines künstlichen Weihnachtsbaums gegeneinander ab / als sei es ihr Problem". Warum sind Weihnachtsbäume nicht ihr Problem? Weil sie - vielleicht - Muslima ist? Weil sie Marxistin ist? Oder weil man, egal "wer" oder "was" man ist, in einem fremden Land ganz andere Probleme hat?

Über die genaueren Umstände der Familie erfährt man nicht viel. Ihre Wohnung wird genauso wenig beschrieben wie das Land, in dem sie leben (vermutlich Schweden), oder das Land ihrer Herkunft (vermutlich Iran), oder die Berufe der Eltern. Es wird auch nicht ganz klar, wie sich die Erzählerin, die Tochter, selbst innerhalb der Familie situiert. Während die Ratschläge, Meinungen, Mahnungen von Vater, Mutter, Großmutter, Onkel und Bruder auf sie hereinprasseln - das Gedicht besteht in der Tat aus nichts anderem als Gesprächsfetzen -, bleibt sie selbst still.

Athena Farrokhzad wurde 1983 in Teheran, Iran, geboren und wuchs in Schweden auf. Bleiweiß, auf Schwedisch "Vitsvit" (2013), war ihr lyrisches Debüt und wurde bislang in fünfzehn Sprachen übersetzt. Für die sehr gelungene deutsche Übersetzung ist Clara Sondermann verantwortlich.

"Meine Großmutter sagte: Pistazien für die Zahnlosen / Rosenkränze für die Gottlosen..."

Mit seinen fast 70 Seiten ist Bleiweiß ein Langgedicht. Großzügig sind die Verse auf die Seiten verteilt. Die einfachen, klaren Worte sitzen in weißer Schrift auf schwarz gedruckten Balken. Das verleiht ihnen eine gewisse Schwere, dem Buch insgesamt aber eine eigentümliche Eleganz. Auch die Sprache oszilliert zwischen lyrischer Schwermut und einer flapsigen Alltäglichkeit. Dieser Spagat zeigt sich schon in der Form, denn die Gesprächsfetzen wirken wie gesetzte, überzeitliche Weisheiten, eingeführt durch die stete Eröffnungsformel "Mein Vater/Mutter/Onkel sagte", gefolgt von einem Doppelpunkt. "Bleiweiß" lässt sich als Chiffre für den zu überwindenden Rassismus lesen. Das schon in der Antike gebräuchliche Farbpigment wird seit langem nicht mehr verwendet, da es schädlich für Gesundheit und Umwelt ist.

Was gesagt wird, ist mehr Monolog als Dialog. Und manche dieser kurzen Monologe wirken absurd - "meine Mutter reichte ihrer Mutter das Glas und sagte: Jetzt sind wir quitt / Hier hast du die Milch zurück". Als würde sich die, die all dies aufschreibt, selbst über die familiären Seltsamkeiten amüsieren.

Oder handelt es sich um Sprichworte, die es in der einen Sprache gibt, aber in der anderen nicht? Diesen Eindruck bekommt man, wenn die Großmutter folgende so schöne wie rätselhafte Weisheit zum Besten gibt: "Was du auf der Schaukel verlierst, holst du dir später im Karussell zurück".

Verlieren, Zurückholen, Geben und Nehmen. Das Stimmengewirr steigert sich zu einer machtvoll hämmernden Wutrede, die nicht bloß anklagt, sondern mit offenen Armen und großer Vorstellungskraft austeilt: "Meine Großmutter sagte: Pistazien für die Zahnlosen / Rosenkränze für die Gottlosen / Teppiche für die Obdachlosen / und eine Mutter für dich // (...) Meine Mutter sagte: Sauerstoff für die Leblosen / Vitamine für die Kraftlosen / Prothesen für die Beinlosen / und eine Sprache für dich".

Schade fast, dass Farrokhzad dem Zusammenhang zwischen Familie und Politik nicht noch weiter auffächert. Stattdessen geht es gegen Ende des Gedichtes immer mehr um Sprachlichkeit - ein Thema, das zur Emigrationserfahrung so wesentlich dazugehört, wie zur Dichtkunst. Manchmal kommt diese abstrakte Problematik etwas kraftlos daher. "Sprachlos bist du gekommen sprachlos sollst du gehen" - zweifellos wahr, aber das eigentlich Spannende passiert doch dazwischen, zwischen dem Kommen und dem Gehen.

Athena Farrokhzad: Bleiweiß. Aus dem Schwedischen von Clara Sondermann. Kookbooks Verlag, Berlin. 68 Seiten, 19,90 Euro.

© SZ vom 19.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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