Pioniere, Flüchtlinge, Heimkehrer:Sporen auf großer Fahrt

Lesezeit: 2 min

Der italienische Pflanzenkundler Stefano Mancuso will die Vorstellung erschüttern, dass Pflanzen sesshaft und verwurzelt seien. Er studiert ihre Mobilität.

Von Catrin Lorch

Das Buch verspricht "Geschichten über Pioniere, Flüchtlinge, Heimkehrer, Kämpfer, Einsiedler und Zeitreisende", handelt aber nicht von Menschen, sondern von Pflanzen. Der italienische Biologe und Pflanzenkundler Stefano Mancuso hat sich vorgenommen, unser Bild von den sesshaften, unbeweglichen, verwurzelten Pflanzen gehörig "durchzuschütteln". Voraussetzung ist, so steht es in der Einleitung seines Buchs "Die unglaubliche Reise der Pflanzen", dass man Vergleiche mit der Tierwelt aufgibt. "Pflanzen sind mehr als behinderte Tiere", schreibt Mancuso, und dass man sie in ihrer Mehrzahl wahrnehmen sollte. "Was bei den Tieren das Individuum, ist bei den Pflanzen die Gemeinschaft."

Samen und Sporen fliegen häufig in "astronomischen" Mengen Tausende Kilometer weit. Kräutersamen reisen in Fischeiern und das vom Wind angewehte genetische Material siedelt sogar auf frischen Lavabrocken. Die Neugier auf solche Erkenntnisse, die früher nur in Fachbüchern standen, begründet die Literaturgattung, die lose als "nature writing" klassifiziert wird.

Dass Mancuso Wissenschaftler ist, merkt man seinem Stil an. Er erinnert an den Duktus von populären Vorlesungen ("Betrachten wir unseren kleinen Helden etwas genauer"). Doch treiben die zahllosen Vermenschlichungen dem Gegenstand alle Poesie aus. Was schlicht formuliert ein Weltpanorama der Sporen und Ableger gewesen wäre, schrumpft auf die Konturen von Entenhausen mit Bäumen. Dazu passen die vagen Illustrations-Skizzen von Grisha Fisher.

Die besten Kapitel - sie machen das Buch dann doch lesenswert - schildern einfach, was in sich berührend ist. "Zeitreisen" erzählt von 4000 Jahre alten Kiefern. Und von Dattelpalmen aus dem jüdischen Masada, deren Kerne man nach 2000 Jahren wieder zum Keimen bringen konnte, wie die aus Permafrostboden aufgetauten Samen eines Leimkrauts, das nach 39 000 Jahren wieder aufblüht.

Die kluge Formel, nach der man die Ausbrecher aus botanischen Gärten genauso wenig aufhalten kann wie einschwebende Sporen, kann man sich auch auf ihren aktuellen, politischen Gehalt ansehen: "Die invasiven Arten von heute sind die einheimische Flora von morgen."

Ganz am Ende steht eine traurige Metapher für das Anthropozän, das vom Menschen geprägte Erdzeitalter. Eine Akazie, die in der Wüste Ténéré seit Jahrhunderten aufragt, ein Baum, dessen Wurzeln sogar Granitschichten durchbrachen, als einziger im Umkreis von 400 Kilometern Kompassnadel für die nomadisierenden Tuareg, wurde in den Fünfzigerjahren von einem Lastwagen angefahren - und überlebte knapp, nur um zwanzig Jahre später von einem weiteren Auto endgültig gefällt zu werden.

Stefano Mancuso: Die unglaubliche Reise der Pflanzen. Aus dem Italienischen von Andreas Thomsen. Mit Aquarellen von Grisha Fisher. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2020. 154 Seiten, 22 Euro.

© SZ vom 10.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: