Pianistin Dina Ugorskaja:Himmlische Längen

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Schubert bedeutete für Dina Ugorskaja das "Kindliche zusammen mit einer beispiellosen Reife". (Foto: Felix Broede)

Die kürzlich verstorbene Pianistin Dina Ugorskaja hinterlässt mit ihren Schubert-Aufnahmen ein großes letztes Werk, aus dem man ihren Abschied heraushört.

Von WOLFGANG SCHREIBER

Dina Ugorskaja, die im September mit 46 Jahren starb, hat wenige Monate vor ihrem Tod Franz Schuberts letzte Klaviersonate in B-Dur gespielt, im Münchner Herkulessaal und für die CD im Studio des Bayerischen Rundfunks. Entstanden ist das Vermächtnis einer großen Musikerin. Das Schubertspiel Dina Ugorskajas ist bestürzend existenziell, es gehört zum Wahrhaftigsten, das Musiker uns in letzter Zeit übermittelt haben. Aus tiefem Nachdenken und Empfinden heraus Schuberts Ton so nahe zu kommen, sich bewusst an ihn herantasten - nur wenigen Pianisten will gelingen, was Dina Ugorskaja hier erreicht hat.

"Schuberts himmlische Längen begleiten mich mein Leben lang", hat Dina Ugorskaja im Booklet der CD geschrieben, "die Zeit scheint in dieser Musik manchmal ganz stehen zu bleiben. Der Schmerz, das Unerträgliche, Abgründe, Ausweglosigkeit überwältigen uns." Es gelingt ihr, den verwirrend herben und zugleich in Schönheit ausufernden Kopfsatz der B-Dur-Sonate mit einer verinnerlichten Leuchtkraft aufzuladen, die, wenn der Vergleich erlaubt ist, höchstens Swjatoslaw Richters bohrendem Nachdruck zu Gebote stand. Ugorskajas Schubert freilich bleibt allem lyrischen Ingrimm fern, Bewegungsstarre aus analytischer Dringlichkeit war nie ihre Sache - nicht bei ihrer Darstellung der sechs späten Beethoven-Sonaten (2012/14) und nicht in ihrem intellektuell dichten, gesanglich fließenden, aufblühenden Spiel der 48 Präludien und Fugen in Bachs Wohltemperiertem Klavier (2016).

Als Fünfjährige hat sie in Leningrad Schubertlieder zum ersten Mal gehört und sogar schon gesungen

Die Tochter des russisch-jüdischen Pianisten Anatol Ugorski und der Musikwissenschaftlerin Maja Elik, geboren 1973 im damaligen Leningrad, heute St. Petersburg, war 1990 mit ihrer Familie aus der Sowjetunion nach Deutschland übersiedelt, auf der Flucht vor antisemitischen Aggressionen in Russland. Der Vater war ihr erster Klavierlehrer gewesen, am Leningrader Konservatorium studierte sie auch Komposition und Gesang. Nach der Ausreise setzte Dina Ugorskaja ihre Studien in Berlin und danach in Detmold fort, wo sie zwölf Jahre blieb, das Konzertexamen ablegte und bis 2007 einen Lehrauftrag hatte. Die Pianistenkarriere gelang ihr eher unspektakulär, stetig, ohne wuchtige Höhepunkte nach außen - anders als bei ihrem Vater Anatol Ugorski, der gleich nach seiner Emigration durchschlagende internationale Erfolge verbuchen konnte - so virtuos wie visionär mit Beethovens Diabelli-Variationen, den drei Brahms-Sonaten, mit Schumann und Skrjabin.

Dina Ugorskajas "bescheidenere" Konzertauftritte, ihre Schumann-, Beethoven- und Bachaufnahmen ab 2009, beeindruckten die musikalische Öffentlichkeit dennoch, auf stillere, freilich intensive Art und Weise. Die Krebserkrankung schien sie bezwingen zu können. Im Jahr 2016 folgte Ugorskaja, mittlerweile lebte sie mit ihrem Mann und einer Tochter in München, beglückt einem Ruf als Klavierprofessorin an die Musikuniversität Wien. Karriere, Selbstvermarktung, fahrige Twitter-Eloquenz waren nicht ihre Sache, wohl dagegen eine unnachgiebige Disziplin, die ernsthafteste Intensität und Stärke eines Musizierens, das jetzt mit der Schubert-Doppel-CD an ein Ende gekommen ist.

Zumal in diesen letzten Schubertaufnahmen meint man den Schmerz eines vorzeitigen Lebensabbruchs, des Abschieds, zu hören. Dina Ugorskaja "spielt" nicht einfach "nur" die vier letzten Sonatensätze Schuberts sowie die drei späten nachgelassenen, dämonisch dahinjagenden Klavierstücke, dazu die sechs romantischen Moments Musicaux, alles Musik aus Schuberts letztem Lebensjahr 1828, sie verwandelt die Interpretation dieser Musik in das Erschrecken vor einer bekenntnishaften, der Einsamkeit abgehörten beklemmenden Kunst.

Für sie bedeutete das Wesen der Schubert-Musik, so schrieb sie, das "Kindliche zusammen mit einer beispiellosen Reife". Als Fünfjährige habe sie in Leningrad Schubertlieder zum ersten Mal gehört und mit dem Vater am Klavier sogar schon gesungen.

Jetzt, vierzig Jahre später, hört Dina Ugorskaja tief in Schuberts doppelbödige Musik hinein, versteht sie den Zwiespalt, das Zögerliche, die Verlangsamungen (ohne zu schleppen) oder Verdunkelungen, die jäh klaffenden Pausen, beispielsweise den schauerlich dumpfen Trommelwirbel-Triller vor der Wiederholung der Exposition im Molto-Moderato-Kopfsatz. Alles wächst heraus aus einer beinahe schmerzhaften Deutlichkeit musikalischen Ausdrucks, Artikulierens, "Sprechens". Es gibt danach die Zerbrechlichkeit und Zartheit im Andante sostenuto, und noch im Scherzo wird das Stocken und Taumeln eines scheinbar intakten Melodischen hörbar. Der Finalsatz lässt den Perpetuum-mobile-Humor nicht brachial oder bloß ungestüm ablaufen, wie oft der Brauch, gibt ihm vielmehr feingliedrig, tänzerisch, gedankenvoll Kontur. Am verquer heiteren Ende kann Schuberts existenzielle Auflehnung in Tönen triumphieren. Der frühe Tod der Musikerin Dina Ugorskaja macht traurig.

© SZ vom 22.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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