Philip Roth: Nemesis:Rendezvous mit der Rachegöttin

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Das ist der große historische Resonanzraum, den Roth in seinem nur gut zweihundert Seiten umfassenden Roman öffnet und in den er seinen Helden hineinstellt, der sich doppelt schuldig fühlt: weil er Amerika nicht in Europa verteidigt und weil er dessen Kinder verrät, als er plötzlich doch nachgibt und Marcia in die Poconos folgt, wenige Tage, bevor der Sportplatz ohnehin geschlossen wird. Die kurze Pastorale in der ländlichen Idylle samt Kanufahrten und Liebesnächten auf der Insel im See, mit denen Roth einen klassischen Topos zitiert, die Einschiffung nach Kythera, der mythischen Insel der Göttin Aphrodite - dieses zarte Aquarell in der sonst schroff, mit wütenden Strichen gezeichneten Geschichte, geht dem erbarmungslosen Rendezvous Bucky Cantors mit der Rachegöttin voraus.

Die Epidemie erreicht das Camp, und als auch Bucky krank wird, ist er davon überzeugt, er habe das Virus eingeschleppt. Hier bricht die Fabel jäh ab und springt ins Jahr 1971, in dem sich endlich der Erzähler des Romans zu erkennen gibt. Es ist einer von Bucky Cantors ehemaligen Schülern. Selbst von der Kinderlähmung gezeichnet, schildert er, was aus seinem Lehrer wurde: ein verbitterter und vereinsamter Krüppel, der auf Marcia verzichtete und sich als Postbeamter über die Runden bringt.

Der dritte und letzte Teil von "Nemesis" stürzt den Leser mit größter Wucht, geradezu rasend in den Abgrund einer klassischen Tragödie, als welche auch bereits die vorhergehenden Bücher angelegt waren. Mit diesem Werk vollendet Philip Roth eine Tetralogie kürzerer Romane, in denen er die Summe seiner Themen und seines Könnens zieht, meisterhaft alles, was ihn als Schriftsteller ausmacht, zusammenführt und konzentriert. Auch in die vorhergehenden Romane, "Empörung" und "Die Demütigung" hatte Roth seine geballte Lebenswut gelegt und seine Prosa in ein Geschoss verwandelt. Der 77-Jährige wird von Buch zu Buch nicht nur düsterer, sondern auch immer härter, schonungsloser. Dabei hat er die beiden thematischen Stränge in seinem Werk in vollendeter Form miteinander verknüpft, den Stoff der autobiographisch geprägten Romane, die um Herkunft, Familie, Vergänglichkeit, um Frauen und um Künstlerschaft kreisten, und jene Parabeln, in denen er auf die großen historischen und politischen Fragen Amerikas ausgriff.

Jetzt spielt alles ineinander und befeuert sich gegenseitig, und in diesem Zusammenspiel wirkt sein Stil sehnig, ausgezehrt und von einer nachgerade unerbittlichen Erzählökonomie gestählt. Beispielhaft hierfür ist in "Nemesis" die Plastizität, mit der Roth die sommerliche Atmosphäre des Newarks seiner Kindheit zum Leben zu erwecken versteht, die durch Herkunft beglaubigten Details jedoch als Bruchstücke für den Aufbau einer fiktionalen moralischen Versuchsanordnung verwendet. Exemplarisch ist auch die Hauptfigur, die nur die jüngste in der langen Reihen jüdischer junger Männer ist, strebsam, begabt, aufstiegswillig - und nah an Roth selbst. Man muss die Meisterschaft des Autors um so mehr rühmen, als dieser Bucky Cantor trotz all seiner Kraft als Romanfigur letztlich leider doch zu schwach ist, um die historischen Lasten zu tragen, die sein Erfinder ihm aufbürdet.

Um dessen Schuldkomplex, diese heillose Identifikation mit den dunklen Schicksalsmächten, die als letzte Verzweigung der jüdischen Leidensgeschichte zu verstehen ist, glaubhaft zu machen, muss Roth die Unterlegenheitsgefühle früh in der Kindheit verankern. So lässt er Bucky bei den Großeltern aufwachsen, weil die Mutter bei seiner Geburt starb und sein Vater straffällig wurde. Der Sohn versucht nun unter den Kampfbedingungen der Assimilation, das, was er als Schuld empfindet, wieder gutzumachen. Doch den Gewissensbissen des Helden fehlt eine hinreichend tragfähige objektive Grundlage.

"Er wurde von einem übersteigerten Pflichtgefühl getrieben, besaß aber zu wenig geistige Statur, und dafür hat er einen hohen Preis gezahlt". Diese lapidaren Worte legt Roth zwar dem Erzähler in den Mund. Doch woher kommt dieses "Pflichtgefühl"? Und warum muss es den Helden in den Untergang treiben? Philip Roth hat das Defizit in der literarischen Motivation seines Protagonisten vielleicht gespürt. Indem er Bucky Cantor in zwei Disziplinen triumphal in Szene setzt, als Turmspringer und als Speerwerfer, versucht er, seinen Helden zu überhöhen, verwandelt ihn in eine trotz ihrer Kleinwüchsigkeit übergroße Gestalt. Das ist eindrucksvoll, mitreißend und entfaltet einige rhetorische Wucht -lässt aber einen Leser zurück, der sich am Ende nicht nur über Bucky, sondern auch über die eigene Begeisterung wundert.

PHILIP ROTH: Nemesis. Roman. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Carl Hanser Verlag, München 2011. 224 Seiten, 18,90 Euro.

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