Peter Hennings Roman:Gezackte Erinnerungen

Lesezeit: 3 min

Ein Deutscher in Polen, eine intensive Vater-Suche: "Die Chronik des verpassten Glücks".

Von Hans-Peter Kunisch

Von deutsch-polnischer Verständigung ist viel die Rede, aber wenn es um die gemeinsame Vergangenheit geht, gibt es, wie jetzt wieder, fast nur Meinungsverschiedenheiten. Das Neue an Peter Hennings Roman "Die Chronik des verpassten Glücks" ist, dass er die gemeinsame Vergangenheit aus beiden Perspektiven erzählt. Abwesende Hauptfigur ist der tote Pole Pawel Król, der für den Deutschen Richard Warlo ein Ersatzvater war. Richards Mutter ist früh verschwunden, der biologische Vater wurde zum Trinker und brachte das Kind ins Heim. Dann kam Richard zur Großmutter, bei der Pawel wohnte.

Henning zeichnet Pawel als harten Burschen, der jede Angst verachtet. Er war, nach einer Krankheitsbehandlung, morphiumsüchtig und beschaffungskriminell. Richard stand bei Apothekenüberfällen Schmiere, einmal hat er Pawel blutend gesehen, mit Glas in der Hand. Der aufbrausende Melancholiker, der begeisternd Mandoline spielte, hatte einen Selbstmordversuch unternommen. Ein schwieriges Milieu, aufseiten beider Länder.

Doch das Problem zum Auftakt ist ein anderes: 1991 findet Richard Fotos, auf denen der junge Pawel die SS-Uniform trägt. Das passt vielleicht zum harten Typ mit Nachkriegsschwierigkeiten, aber nicht zum polnischen Ersatzpapa, an den sich Richard erinnert. Er will alles wissen und macht sich in die Region Krakau auf. Eine klassische Vatersuche mit NS-Thema. Aber dass der geliebte SS-Papa Pole war, verändert das Modell grundlegend.

Im Zug lernt Richard, inzwischen Tierforscher im Kölner Zoo, einen jungen Krakauer Verleger kennen. Mit seiner Hilfe findet er Pawels Sohn und Tochter: Marcin, einst als Feuilletonist erfolgreich, nun zum versoffenen, dauerbankrotten Heftchenschreiber herabgesunken und Lucyna, die Schwester, eine hübsche, alleinerziehende Teenager-Mutter. Aber auch Oliwia lebt noch, die Mutter der beiden. Sie ist die Schlüsselfigur. Denn Pawel hat ihr, bevor er verschwunden ist, ein Geheimnis anvertraut. Auch Oliwia ist eine halbe Verliererin: für Pawel, der in die unerreichbare Tochter des Gutsbesitzers verliebt war, blieb sie immer zweite Wahl. Jetzt hat sie Krebs und ist todkrank.

Peter Henning: Die Chronik des verpassten Glücks. Luchterhand Verlag. München 2015. 444 Seiten. 19,99 Euro. E-Book 15,99 Euro. (Foto: verlag)

Henning erzählt, jeweils auktorial, aus vier verschiedenen Perspektiven. Seine Figuren gelingen ihm. Dennoch liegt in der Romanstruktur ein gravierendes Problem: Oliwias Geheimnis. Als der polnische Mittler Kontakt aufnimmt, erfährt er von einer Pflegerin, Oliwia liege "im Sterben", Warlo solle auf ihre Befragung verzichten - und der akzeptiert das widerstandslos. Ein Vater-Rechercheur, der die Chance hat, mit der todranken Frau des Gesuchten zu sprechen und sich so leicht abwimmeln lässt, muss erst noch geboren werden. Als klar wird, dass Marcin und Lucyna, die damals zu klein waren, zur Aufklärung nichts beitragen können, erscheint sein Verhalten um so absurder. Gewiss, das Aufschieben der Geheimnisauflösung dient dem klassischen Suspense, doch dessen Kunst liegt darin, den Aufschub glaubwürdig zu gestalten. Hier wirkt die inszenierte Dramatik bald wie fauler Zauber. Am Ende des Romans muss man dann überdies feststellen, dass das überlange Hinauszögern der zentralen Information des Buchs kein simpler Handwerksfehler ist, sondern mit der Grundhaltung des Autors gegenüber der deutsch-polnischen Vergangenheit zu tun hat. In die Psychologie der Figuren zeichnet Henning einen Kolportage-Plot ein, der mit dieser Vergangenheit nach Belieben verfährt.

Es ist plausibel, dass Marcin und Lucyna abwehrend auf die SS-Fotos reagieren. Warum sollen sie einem Deutschen, der mehr von ihrem Vater hatte, auch noch von ihm erzählen? Der deutsche Vatersucher Richard wiederum fühlt sich provoziert. Doch irgendwann verschwindet aus seiner Geschichte der Recherche-Impuls, die Suche nach dem Rätsel der Vergangenheit. Nicht nur Pawel ist für Richard wichtig. Seine Freundin Mariam ist jung an Krebs gestorben. Die Beschreibung dieser verlorenen gegangenen Liebe gehört zu den gelungensten Passagen des Romans.

Doch durch einen missglückten, aber gefühlsintensiven One-Night-Stand mit Lucyna erkennt Richard, dass er endlich ein Leben nach Mariam beginnen sollte. In seinem Kopf verbindet sich das mit der Übernahme der Maxime Lucynas "Vergangenheit ist vergangen". Mit Blick auf ihre Trauer um Oliwia denkt Richard plötzlich: was sind "alte, gezackte Schwarz-Weiß-Fotos gegen die Trauer einer Frau, die soeben ihre Mutter verloren hatte? Was spielte es noch für eine Rolle, ob Pawel ein Nazi und bei der SS gewesen war?"

Papa mag ein Mörder gewesen sein - aber egal? "Niemand war", sinniert Richard, "imstande, einen anderen bis ins Letzte zu durchschauen." Doch spricht das dagegen, herauszufinden, was feststellbar ist? Henning bietet, nachdem er Richard zu spät zu Oliwia gelotst hat, folgende Lösung an: Glücklicherweise hat die Sterbende Lucyna gerade noch zustecken können, Pawel habe im Streit einen Menschen getötet. Es ging um eine Frau. Der verschwiegene Mord hatte mit Liebe zu tun, nicht mit der SS. Er war ewig-menschlich schlecht, nicht politisch. Doch woher kommen die Fotos Pawels in SS-Uniform?

Im Stil eines Sachbuchs bestätigt der Autor in einem Epilog Oliwias letzte Worte. Nach dem Mord ist Pawel ausgerechnet in einem Ausbildungslager für "fremdrassige" SS-Freiwillige untergetaucht. Als er bemerkte, was mit den Juden geschah, ist er geflohen. Auch das dürfte es gegeben haben. Doch Henning bestätigt mit der angeklebten Historie Richards Wegschau-Lehre: es lohnt sich nicht, sich mit der Geschichte aufzuhalten. Das ist nach 444 Seiten ein kleiner, allzu freundlich kollektiv entlastender Ertrag, für den Henning allzu viele dramaturgische Tricks aufführt. Schade für Buch und Thema.

© SZ vom 02.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: