Wiederentdeckung:Puppen, Masken, Götter

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Bisher war sie nur die erste Gastgeberin der "Gruppe 47" am Bannwaldsee: Nun entdeckt Peter Braun die vielen Facetten der geheimnisvollen Avantgardistin Ilse Schneider-Lengyel

Von Helmut Böttiger

Lange schaute man nicht so richtig hin. Immer wieder tauchte dieser Name auf, aber immer nur am Rande, immer mit derselben Nebenbemerkung. Die erste Tagung der Gruppe 47, so ist in allen einschlägigen Verzeichnissen zu lesen, fand am 6./7. September 1947 am Bannwaldsee bei Füssen statt, "im Haus von Ilse Schneider-Lengyel". Das steht überall, doch mehr fand sich lange Zeit nicht.

Die Gruppe 47 wurde im Lauf der Jahre berühmt, aber wer diese ominöse "Ilse Schneider-Lengyel" war, mit der alles seinen Anfang nahm, schien niemanden zu interessieren. Blasse Erinnerungen bezogen sich nur darauf, dass sie mit ihrer exotisch anmutenden Erscheinung und ihren vom Surrealismus geprägten Gedichten eigentlich gar nicht zur Gruppe 47 passte und als Autorin nicht so recht ernstgenommen wurde. Bald verlor sich ihre Spur.

Den Jenaer Literaturwissenschaftler Peter Braun hat das nicht ruhen lassen. In langjähriger Forschungsarbeit hat er Bruchstücke aus der Biografie Ilse Schneider-Lengyels zusammengetragen. Herausgekommen ist dabei das Porträt einer erstaunlichen Frau, die in aufregender Weise quer zu ihrer Zeit stand. "Fotografin, Ethnologin, Dichterin": Der Untertitel des Buches weist darauf hin, dass sie sich in mehreren künstlerischen und erkenntnistheoretischen Feldern ausprobierte.

Peter Braun ist bisher vor allem mit Arbeiten zu Hubert Fichte und einer ausgeprägten Vorliebe für die Verbindung von Ethnologie und Literatur hervorgetreten. Es wirkt wie eine zunächst bloß sympathisch wirkende, dann aber auch nachvollziehbare Obsession, dass er nun Ilse Schneider-Lengyel als Avantgardistin, als zu früh Gekommene skizziert, als Vorläuferin von Hubert Fichte und den "Ethnopoetics" in den USA. Sein Ausgangspunkt sind die wenigen erhalten gebliebenen Blätter aus dem Nachlass der Autorin. Ihre Wohnung am Bannwaldsee stand nach ihrem Weggang jahrelang leer, sie wurde offensichtlich geplündert und demoliert. Es ist Zufall, was davon dann schließlich in der Münchner Staatsbibliothek landete.

Eine weiterer Fotografie Ilse Schneider-Lengyels aus dem Buch "Die Welt der Maske". (Foto: N/A)

Brauns Analysen von Schneider-Lengyels Arbeit lassen postkoloniale Perspektiven erahnen

Braun zeichnet anhand dieser Materialien die Biografie Schneider-Lengyels nach, und das gestaltet sich immer spannender. Sie wurde 1903 in München geboren, in einem liberalen bildungsbürgerlichen Elternhaus. In den zwanziger Jahren studierte sie an der Pariser Kunstschule Grande Chaumière, an der zur selben Zeit auch Alberto Giacometti Kurse belegte. Sie hörte in München Kunstgeschichte und zog dann Ende der zwanziger Jahre weiter nach Berlin, wo sie sich im Umfeld des Bauhauses vor allem der Kunstfotografie widmete und parallel dazu ethnologische Studien betrieb. 1934 konnte ihr Foto-Essayband "Die Welt der Maske" noch bei Piper in München erscheinen, bevor sie mit ihrem ungarisch-jüdischen Mann László Lengyel nach Paris emigrierte.

1934 ist der Band "Die Welt der Maske" von Ilse Schneider-Lengyel erschienen. (Foto: Bayerische Staatsbibliothek)

Die Darstellung dieser biografischen Stationen und der zeitgeschichtlichen Einflüsse ist atmosphärisch dicht. Immer mehr bedauert der Leser so wie der Autor selbst, dass man so wenig Genaues über Schneider-Lengyels Leben weiß. Umso präziser stellt Braun den Zustand der akademischen Disziplin Ethnologie dar, einschließlich der politischen Implikationen dieses Fachs seit dem 19. Jahrhundert, die aktuell in der Debatte um das Humboldt-Forum eine so große Rolle spielen.

Braun rückt Schneider-Lengyels Fotografien von Masken aus allen Kontinenten behutsam in die Nähe heutiger Forschungsinteressen, seine Analysen ihrer Arbeiten lassen eine postkoloniale Perspektive zumindest erahnen. Ebenso verblüffend sind ihre Fotografien von Skulpturen und mittelalterlichen Figuren, mit denen sie sich in Paris über Wasser hielt. Die Nähe zur zeitgenössischen Kunst in Paris, vor allem zu André Breton und dem Surrealismus, blitzt in einigen erhaltenen Aufzeichnungen auf.

Im Bannwaldsee ist noch heute der Steg vor dem ehemaligen Wohnhaus Ilse Schneider-Lengyels zu erkennen. (Foto: Peter Braun)

Auffällig ist, dass Ilse Schneider-Lengyel während der Nazibesetzung zwischen Paris (im Winter) und dem heimischen Bannwaldsee (im Sommer) pendelte. Offenkundig konnte sie dabei Kontakte nutzen, die durch ihren jüdischen Ehemann einen ganz spezifischen Charakter haben mussten. Braun geht mit den vorhandenen Spuren vorsichtig um. Die Trennung von László Lengyel nach 1950, die aus privaten Gründen erfolgte, dokumentiert er durch wenige erhaltene Notizen und enthält sich weitergehender Spekulationen.

Ihr Interesse für außereuropäische Kulturen hatte mit den Selbstbefragungen ihrer deutschen Kollegen wenig zu tun

Ihre Glanzzeit hatte Ilse Schneider-Lengyel in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Sie berichtete, vor allem für die Süddeutsche Zeitung, bis 1947 über das kulturelle Leben aus dem befreiten Paris, unter anderem mit äußerst Erhellendem über die Bedeutung Sartres, außerdem Feuilletons wie 1950 den Essay "Puppen, Masken, Götter" für die Neue Zeitung. Auch mit der Zeitschrift Der Ruf, den von Hans Werner Richter und Alfred Andersch verantworteten "Blättern für die junge Generation", stand sie in Verbindung.

Dass sie dann nach dem Ende des Ruf ihr Haus am Bannwaldsee für eine Tagung von Beteiligten zur Verfügung stellte, ging organisch daraus hervor. Der für sie wichtigste Autor aber war Arno Schmidt, der Einladungen zur Gruppe 47 konsequent ablehnte. Mit ihm nahm sie 1956 brieflich Kontakt auf, in ihm sah sie, so Braun, einen "Wahlverwandten".

Ilse Schneider-Lengyel musste in Deutschland wie ein Fremdkörper wirken. Braun zeichnet das Faszinierende ihrer Person intensiv nach und beschreibt ausführlich ihre Projekte, die sich im Nachlass finden und die ab Mitte der fünfziger Jahre keine Öffentlichkeit mehr fanden - obwohl sie noch 1952 einen durchaus beachteten Lyrikband ("september-phase") in Alfred Anderschs berühmter Reihe "studio frankfurt" veröffentlicht hatte.

Symptomatisch ist, dass sie zu den Vertrauten des erst später mythisch gewordenen jungen Kleinverlegers Rainer Maria Gerhardt gehörte, der 1954 früh Suizid beging. Mit ihrer internationalen Perspektive, mit ihrem Interesse für außereuropäische Kulturen und der oralen Kultur indigener Völker hatte sie mit den Selbstbefragungen ihrer deutschen Kollegen wenig zu tun. Immer wieder blitzt auf, dass sie ein selbstbestimmtes Leben als alleinstehende, in flirrenden Beziehungsnetzen verwobene Frau zu führen versuchte, was in der Adenauerzeit auf großen Argwohn stieß. Mit ihrer Kleidung, die zwischen indianischen Ponchos und französischen engen Hosen changierte, fiel sie aus den geläufigen Mustern heraus. Ilse Schneider-Lengyel starb 1972 völlig verarmt in einer psychiatrischen Anstalt in Konstanz.

Nur selten durchbricht Peter Braun seine akribisch genaue Darstellung mit subjektiv-emotionalen Passagen. So lässt er es sich nicht nehmen, sich eine Begegnung zwischen Ilse Schneider-Lengyel und Hubert Fichte auf der Tagung der Gruppe 47 im schwedischen Sigtuna 1964 auszumalen, die durchaus möglich gewesen wäre. Braun zeigt mit seiner Recherche Spürsinn für das, was am Rande der offiziellen Kulturgeschichte stattfand - und in diesem Buch im Nachhinein wie ein geheimes Zentrum erscheint.

© SZ vom 06.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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