Paula Modersohn-Beckers Selbstporträts in Bremen:Der offene Blick

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Eine Ausstellung zeigt, wie es Paula Modersohn-Becker gelang, sich in der Männerwelt ihrer Zeit zu behaupten.

Von Till Briegleb

Psychologisch gesehen ist der Titel der Ausstellung "Ich bin Ich" im Bremer Museum Böttcherstraße, in der rund 50 Selbstporträts von Paula Modersohn-Becker zu sehen sind, falsch. Er müsste lauten: "Ich bin Iche". Denn was einem bei dieser ersten Schau nahezu aller Selbstbildnisse, die diese Pionierin weiblicher Durchsetzungskraft in der Kunst von sich gemalt oder gezeichnet hat, von den Wänden anblickt, das ist sich selten gleich. Eine Hexenkarikatur mit Klauenhänden hängt neben einer Edeldame mit stechendem Blick, ein Waldgnom mit toten Augen neben einem fast hochmütigen Lächeln von oben herab, ein runder fröhlicher Kopf gegenüber von einem schmalen engelhaften Gesicht der Einkehr.

Speziell in ihrer Findungsphase in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts schafft Modersohn-Becker nicht nur zahlreiche Abbilder ihrer selbst, die sich kaum ähnlich sind. Sie versucht sich dabei auch in den unterschiedlichsten historischen Stilen. Mit Rötel und Kohle orientiert sie sich an Zeichnungen aus der Renaissance und dem Barock. Sie nähert sich Paul Gauguins Figurendarstellung mit der gleichen Unbefangenheit wie antiken Grabporträts. Mal scheint sie sich von den Präraffaeliten führen zu lassen, mal vom französischen Impressionismus. Nur einem Ideal ihrer Zeit folgt sie schon damals nicht. Der akademische Realismus getreuer Wiedergabe interessiert Paula Becker auf ihrem bewundernswert energischen Sehnsuchtspfad zur Kunsterfüllung sehr wenig.

Auch wenn heutzutage jeder Kunstinteressierte sicher ist, den Stil dieser Malerin sofort zu erkennen, die in den wenigen Jahren bis zu ihrem überraschenden Tod durch Embolie nach dem Geburt ihrer Tochter Mathilde 1907 in manischer Produktivität Bilder schuf, zeigen ihre Selbstporträts doch eine große Experimentierfreude. Mal bearbeitet sie die feuchte Oberfläche eines düsteren Kopfbildes offensichtlich mit dem Pinselgriff so wild, bis dem stillen Gesicht jede Ruhe durch Kritzel geraubt ist. Ein andermal verwischt sie alle Konturen, bis Mund und Augen nur noch dunkle Höhlen sind. Sie arbeitet pastos wie fein, in grellfarbigem Rosa wie in nebelhaftem Grau.

Die nackte Tat: Selbstbildnis von Paula Modersohn-Beckers, 1897/98. (Foto: Museen Böttcherstraße/Privatbesitz)

Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Gesicht und Körper scheint für Paula Modersohn-Becker keine narzisstische Selbstinszenierung zu sein, wie bei vielen ihrer männlichen Kollegen, die sich schon immer in heroischen und eitlen Malerposen der Öffentlichkeit präsentiert haben. Es ist eher ein Versuch, ihren persönlichen Ausdruck in der Kunst zu erproben. Das gilt natürlich ganz besonders für ihre nackten Selbstporträts. Sie auszustellen war in der patriarchalen und prüden Kaiserzeit unvorstellbar.

Die angeblich ersten weiblichen Selbstakte der Kunstgeschichte, die Modersohn-Becker 1906 in Paris von sich schuf, sind malerisch weniger experimentell als vorherige Versuche; ihr typischer Übergangsstil vom Impressionismus zum Expressionismus mit der grafischen Komposition und dem dicken Pinselduktus ist hier schon vollkommen ausgereift. Aber der Mut zur nackten "Tat" ist die Fortsetzung ihres Lebensfurors, mit dem sie in der männlich dominierten Kunstwelt selbstbewusst ihren Platz zu behaupten wusste.

Und dazu nahm sie sich nicht nur das Recht zu freier Motivwahl und Selbstverwirklichung, das Frauen damals nicht zugestanden wurde, sondern ging sogar darüber hinaus. Denn männliche Selbstakte wurden trotz Dürers früher Zeichnung als nackter Mann 1512 erst mit Schieles Selbstdarstellungen ein paar Jahre später ein Sujet männlicher Provokation in der Kunst. Paula Modersohn-Beckers ruhige Selbstbetrachtungen als nackte Frau waren da längst gemalt, und auch nicht als Provokation zu erleben. Das berühmteste Bild dieser Serie, das "Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag", das sie mit dieser Widmung am 25. Mai 1906 in Paris malte, strahlt eher stilles Glück aus, zeigt eine in sich ruhende Person mit offenem Blick, die nichts von männlichem Weltschmerz hat.

Trotzdem hält dieses berühmte Bild, das erstmals zwölf Jahre nach ihrem Tod in der neuen deutschen Republik publiziert und überhaupt erst 1922 ausgestellt werden konnte, ein bis heute ungelöstes Rätsel bereit, das die stille Atmosphäre enigmatisch auflädt. Denn der Anschein einer glücklich Schwangeren, die ihren vorgewölbten Bauch umfasst, dazu der Verweis auf ihre Ehe mit Otto Modersohn, widersprechen der Lebenssituation der Malerin in Paris. Sie wollte sich damals von ihrem Mann trennen, das Familienleben für das freie Künstlerinnendasein aufgeben. Sie wurde auch erst später schwanger. Und sie signierte das Bild mit den Initialen ihres Mädchennamens, P. B., Paula Becker. Was also erzählt dieses Bild wirklich?

Ähnliche Fragen werfen auch andere Details ihrer rund 60 Selbstporträts auf, von denen noch niemals so viele an einem Ort gezeigt wurden. Die pupillenlosen Augen, die sie sich stets malte und die wie Krater unbekannter Tiefe den Blick fesseln. Die symbolischen Früchte, Zweige und Gegenstände, die sie meist in den Händen hält, als seien sie Ausdruck einer privaten Geheimsprache, die verschlüsselte Nachrichten an Kundige übermittelt. Aber vor allem irritieren auf ihren so zahlreich gemalten Selbstporträts die Handhaltungen. Häufig berührt sie sich am Kinn, ebenso oft wirken die Arme merkwürdig gewinkelt, um Pflanzliches hochzuhalten, oder sie stemmt Geschirr abstrus in die Luft.

Als wolle sie mit diesen unnatürlichen Gesten ihre Distanz zum Porträtstandard der domestizierten Frau im Kaiserreich ausdrücken, wo Hände im Schoß zu ruhen hatten. Man sieht aber keine Rebellion gegen die Männergesellschaft, sondern ein Selbstbewusstsein, für das Paula Modersohn-Becker hart gearbeitet hat, und das sie so gefasst sie selbst sein ließ, dass es keiner Triumphgesten mehr bedurfte. "Ich bin Ich", wie sie 1906 an Rainer Maria Rilke schrieb. Am Ende stimmt der Titel doch.

Museen Böttcherstraße. Bis 9. Februar 2020. Katalog: Hirmer Verlag, 152 Seiten, 29,90 Euro.

© SZ vom 28.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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