50. Todestag von Paul Celan:Ein Riss, der nicht zu heilen war

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Der Riss im Verhältnis des Dichters zu dem Staat, in dem manche alten Nazis und jungen Wehrmachtsoffiziere den Ton auch im kulturellen Leben angaben, war nicht zu heilen: Paul Celan (Foto: dpa)

Am 20. April 1970 starb Paul Celan. Früh hatte sich der Dichter darüber beschwert, die "Todesfuge" sei "lesebuchreif gedroschen". Zeit, seine Gedichte neu zu entdecken.

Von Christoph Bartmann

Bonn, 1988. Im Alten Wasserwerk haben sich die Spitzen von Staat und Regierung, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland sowie Vertreter von Kirchen, Gewerkschaften und Wirtschaft zur "Gedenkveranstaltung des Deutschen Bundestages aus Anlass der Pogrome des nationalsozialistischen Regimes gegen die jüdische Bevölkerung vor 50 Jahren" versammelt. Die Hamburger Schauspielerin Ida Ehre, eine Überlebende des Holocausts, rezitiert Paul Celans "Todesfuge", dann ergreift Bundestagspräsident Philipp Jenninger das Wort. Seine verunglückte Ansprache, die im Modus der erlebten Rede Hitlers frühe Erfolge und Leistungen aus dem Blickwinkel mancher Zeitgenossen in Erinnerung ruft, sorgt noch während des Gedenkakts für Unruhe und Empörung. Einen Tag später legt Jenninger wegen des wachsenden Proteststurms sein Amt nieder.

Aber auch die "Todesfuge", so formuliert es Thomas Sparr in seiner aufschlussreichen "Biographie" von Celans berühmtestem Gedicht, sei an diesem Tag "zurückgetreten". Nie wieder habe man das Gedicht "bei einem offiziellen Anlass in Deutschland vorgetragen". Dass man es damals im Bundestag zur Erinnerung an die "Reichskristallnacht" vortrug, zeigt etwas von dem besonderen Rang, den Celans Gedicht im kulturellen Gedächtnis der Bundesrepublik einnimmt. Ob eine solche Kanonisierung in Celans Sinn gewesen wäre, ob er sein Gedicht im Bundestag rezitiert sehen wollte und wie er etwa auf den Eklat um Jenninger reagiert hätte, kann man nur ahnen.

Ein Todesorchester hat es im Lager Janowska nahe Lemberg wirklich gegeben

Sparrs Darstellung lässt die vielfältigen Missverständnisse, Verletzungen und Empfindlichkeiten deutlich werden, die Celans Gedicht seit seiner Entstehung in den Jahren 1944/45 begleitet haben. Eines wird überdeutlich: Der Riss im Verhältnis des Dichters, der seine Eltern im Holocaust verloren und selbst nur mit Glück überlebt hatte, zu dem Staat, in dem manche alten Nazis und jungen Wehrmachtsoffiziere den Ton auch im kulturellen Leben angaben, war nicht zu heilen. Mit Kleists Worten könnte man sagen, dass Celan im Nachkriegsdeutschland "nicht zu helfen war", bestimmt auch, weil er sich nicht helfen ließ, aber mehr noch, weil man ihm nicht half. Die Entfremdung wurde durch Celans fortschreitende psychische Erkrankung verschärft, die 1970 schließlich zum Suizid führte.

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Celan selbst hatte früh geklagt, die "Todesfuge" sei schon "lesebuchreif gedroschen", ohne dass er damit seinen Text aus den Mühlen der (Über-)Interpretation wieder hätte befreien können. Die Kanonisierung der "Todesfuge" im deutschen Lesebuch für die Oberstufe hat bewirkt, dass dieses Gedicht wie kein anderes den hermetischen, der Interpretation bedürftigen und durch sie zu erschließenden Kunsttext verkörpert. Sparr bringt dagegen in Erinnerung, dass die "Todesfuge" vor allem anderen Zeugnis und Quelle ist, Tatsachenbeschreibung und dann erst Kunstgebilde. Dass manche deutsche Kritiker Celan später vorhielten, sein Gedicht sei angesichts der ihm zugrunde liegenden Gräuel doch "zu kunstvoll" geraten, erboste ihn besonders, und zu Recht.

In der Literaturwelt der Nachkriegszeit ist Celan ein Exot

Ein Todesorchester hat es nicht nur im Lager Janowska nahe Lemberg wirklich gegeben, es spielte, während die anderen Häftlinge ihre Gräber aushoben, zum "Todestango" auf - so hieß das Gedicht in seiner ersten, rumänischen Fassung von 1947. Es gehört nicht in die deutsche Nachkriegsmoderne, weder seiner Datierung nach, noch in seinen poetischen Mitteln. Die Stunde null, die Idee einer asketischen Moderne auf den Ruinen der Vorkriegswelt, war Celans Sache nicht. Er ruhte in älteren lyrischen Traditionen einer anderen Weltgegend, die seinen westdeutschen Generationsgenossen unbekannt waren und fremd blieben.

In der westdeutschen Literaturwelt der Nachkriegszeit ist Celan ein Exot, der auffällt, einer, der Interesse und Bewunderung weckt, aber eindeutig keiner "von uns" ist, und der es wohl auch gar nicht sein will. Die Schlüsselszene, oft beschrieben, ist sein Auftritt vor der Gruppe 47 im Mai 1952 in Niendorf. "Der liest ja wie Goebbels", solle einer gesagt haben, erinnerte sich Walter Jens 1976 (es soll Hans Werner Richter selbst gewesen sein). Celan fühlte sich rasch ausgegrenzt, hatte aber seinerseits für die tonangebenden Gestalten und ihre Literatur wenig mehr als Verachtung übrig. Die "Ohren der Zeitungsleser" von der Gruppe 47 seien für seine Sprache nicht empfänglich gewesen, schreibt er an seine Frau. Celan, hochverletzlich, wenn es um echte oder vermeintliche Herabsetzungen geht, ist empört über eine Literaturkritik, die seinen Gedichten den realen Erfahrungsgehalt abspricht - und dies umso mehr, wenn die Kritiker (Hans Egon Holthusen oder Günter Blöcker) selbst eine NS-Vergangenheit haben. Die Altnazis sind schlimm, aber kaum besser sind jene, die Celan, mit einem schönen Wort, die "Linksnibelungen" nennt, stramme BRD-Linke mit Israelkomplex.

Die Rezeption der "Todesfuge" - bis heute gestört?

Sparrs Biografie der "Todesfuge" macht klar, wie sehr Entstehung und Wirkung des Gedichts von Komplikationen begleitet sind. Es dauerte lange Jahre, bis die "Todesfuge" endlich ihre deutschen Leser fand. Übersetzungen in wichtige Weltsprachen kamen spät und wurden dem Original oft nicht gerecht. Die von Claire Goll ausgelöste Plagiatsaffäre überschattete die internationale Wahrnehmung von Celans Lyrik und trug wesentlich zu seiner seelischen Verdüsterung ab den frühen Sechzigerjahren bei. Celans literarischer Rang schien der Schwedischen Akademie noch 1966 nicht ausreichend erwiesen, um ihm neben Nelly Sachs den Nobelpreis zuzusprechen. Die Rezeption der "Todesfuge" sei, meint Sparr, bis heute gestört - einerseits das fast übergroße, erdrückende Gewicht des Gedichts, dann aber auch wenig Nachleben, wenig Bearbeitungen, wenig "Spin-offs". Warum? Wegen der Ehrfurcht, die dieses Gedicht mehr gebietet als irgendein anderes? Wie auch immer unser Umgang mit der "Todesfuge" wäre, wir müssten uns dafür ganz von der Vorstellung befreien, damit Paul Celan jemals gerecht zu werden.

"Das bitterste, radikalste Deutschlandlied, das je geschrieben wurde", nennt Wolfgang Emmerich die "Todesfuge" in seiner großen Studie über "Paul Celan und die Deutschen". Auch hier geht der Blick wieder nach Niendorf, zum ersten großen Fremdheitsmoment Celans in der bundesdeutschen Welt. Für Celan waren die jungen Literaturstars der Gruppe 47 nicht nur "Zeitungsleser", sondern, nicht weniger schlimm, "Fußballspieler", "Ungebildete, Aufschneider und Halbversager", jedenfalls "Menschen ganz ohne Niveau". Mit hoher Dichtung im Vorkriegssinn wollten diese "Kameraden" nichts zu tun haben.

Kein Wunder, wenn sich Celan auf Dauer mit keinem der frisch arrivierten Autoren gut vertrug, mit Grass trotz der Nähe in dessen Pariser Jahren nicht und auch nicht mit dem wohlmeinenden und besorgten Böll, mit Enzensberger und anderen "Linksnibelungen" sowieso nicht, sondern eigentlich nur mit Ingeborg Bachmann, mit der ihn eine wechselvolle Liebesbeziehung verband. Literaten aus Deutschland, zu denen Celan dauerhaft ein einigermaßen freundschaftliches Verhältnis pflegte, sind rar: der Schriftsteller Rolf Schroers gehörte dazu, Hermann Lenz mit seiner Frau Hanne, oder auch der Freiburger Germanist Gerhart Baumann.

Die arrivierten Autoren im Nachkriegsdeutschland waren für ihn "Linksnibelungen"

Baumann ist es auch, der bei der Anbahnung einer Begegnung zwischen Celan und Martin Heidegger behilflich ist. Einerseits ist Celan Heideggers Verstrickung in den Nationalsozialismus wohlbekannt. Andererseits teilt Celan, so meint Emmerich mit Recht, dessen "Vorliebe für die 'pontifikale Linie' der deutschen Poesie (mit Brecht zu sprechen)". Auf dieser Hölderlin-George-Linie haben sich Celan und Heidegger manches zu sagen und manches zu teilen, was in Niendorf gewiss keiner verstanden hätte. Gerhart Baumann ventiliert 1967 Möglichkeiten einer Lesung Celans in Freiburg, und Heidegger signalisiert Zustimmung: "Schon lange wünsche ich, Paul Celan kennen zu lernen (...) Sie deuten in dieser Hinsicht das Hilfreiche einer hiesigen Lesung richtig." Drei Mal sind sich Heidegger und Celan bis zu dessen Tod 1970 in Freiburg und Umgebung begegnet ("Es wäre heilsam, Paul Celan auch den Schwarzwald zu zeigen", schreibt Heidegger an Baumann). Der Besuch auf Heideggers Hütte in Todtnauberg findet seinen Niederschlag in Celans gleichnamigem Gedicht, in das fast wortgleich die Wendung aus Celans Gästebucheintrag eingegangen ist: "von/einer Hoffnung, heute/auf eines Denkenden/kommendes/Wort/im Herzen/wessen Namen nahms auf/vor dem meinen?" Auf ihrer gemeinsamen Autofahrt im Schwarzwald, mit Baumanns Assistent Gerhard Neumann am Steuer, habe er, so schreibt Celan seiner Frau Gisèle, "klare Worte" gefunden, auf die Heidegger ausweichend oder gar nicht reagiert habe.

Paul Celan und die Deutschen, die Westdeutschen, um die es hier fast ausschließlich geht: ihr Verhältnis, das Emmerich mit den Celan-Worten "Nahe Fremde" noch milde umschreibt, ist ein unheilbar schwieriges gewesen. Hätte ihm deutscherseits etwas wie Gerechtigkeit oder Einsicht widerfahren können, etwa durch ein erlösendes Schuldbekenntnis Heideggers? Celans absolutes Gehör für Verletzungen und Geringschätzungen stand einer Versöhnung ebenso entgegen wie auf der anderen Seite die Unfähigkeit der meisten, Celans Außenseiterrolle anzuerkennen, ihn ohne falschen Ein- oder Ausschluss gelten zu lassen. Dass Celan, je weiter seine Krankheit voranschritt, überall "Machenschaften" (ein wiederkehrender Begriff in Heideggers "Schwarzen Heften") zu erkennen glaubte, und sei es auch nur, wenn die Kritik einmal statt seiner Johannes Bobrowski zur lyrischen Stimme des "deutschen Ostens" kürte, behält etwas tief Verstörendes.

"Lesen Sie! Immerzu lesen, das Verständnis kommt von selbst." Man tut gut daran, Celans Empfehlung zu folgen und seine Gedichte im Geiste einer hermeneutischen Abrüstung neu zu entdecken. Michael Eskin, der amerikanische Philosoph und Literaturwissenschaftler, hat mit vier deutschen Lyrikerinnen und Lyrikern Gespräche "um Celan" geführt: mit Durs Grünbein, Gerhard Falkner, Aris Fioretos und Ulrike Draesner. Sie zeigen auf jeweils unterschiedliche Weise, wie man mit Celan im Gespräch bleiben kann, wie man ihm ungeahnte Dimensionen (bei Falkner ist es, so unerwartet wie plausibel, "Pop") abgewinnt oder wie man mit Celan weitermacht, wenn man den Höhenkamm der Interpretationen überschritten hat (sehr schön erläutert das Aris Fioretos).

Was bleibt von Paul Celan? Der "Glanz des 'großen Gedichts'", wie Falkner sagt, auch noch da, wo es immer "karger und körniger" wird.

Thomas Sparr: Todesfuge. Biographie eines Gedichts. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 2020. 336 S., 22 Euro.

Wolfgang Emmerich: Nahe Fremde. Paul Celan und die Deutschen. Wallstein Verlag, Göttingen 2020. 400 S., 24 Euro.

Michael Eskin: "Schwerer werden. Leichter sein." Gespräche um Paul Celan. Mit Durs Grünbein, Gerhard Falkner, Aris Fioretos und Ulrike Draesner. Wallstein Verlag, Göttingen 2020. 176 S., 22 Euro.

© SZ vom 20.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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