Patriotische Geschichte:In Lumpen auf dem Roten Platz

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Russlands orthodoxe Kirche begeistert die Massen mit einer historischen Wohlfühl-Ausstellung.

Von Julian Hans

Wenn Führung und Volk erst einmal übereingekommen sind, dass Feinde ihr stolzes Land bedrohen, betrügen und erniedrigen, ist das selten gut ausgegangen. In der Moskauer Ausstellung "Russland - meine Geschichte" dauert es deshalb nicht lange, bis man es mit der Angst bekommt.

"Bitte nicht im Gästebuch lesen!" Zwei junge Frauen bewachen den Tisch mit dem Buch am Ausgang. - Wieso nicht? - "Sie sollen unbeeinflusst von der Meinung der anderen Besucher hineinschreiben." - Und wenn man nur lesen will? - "Tut mir leid, Anweisung von oben." - Aber in allen Museen der Welt darf man im Gästebuch lesen ... Da mischt sich ein grauhaariger Herr ein: "Das mag sein. Aber Russland geht seinen eigenen Weg."

Warum Menschen aus der DDR flohen? Weil Westler ihnen einredeten, dass sie schlecht leben

Damit ist die Ausstellung besser zusammengefasst als mit jedem Eintrag ins Gästebuch. Der vierte Teil der Serie "Russland - meine Geschichte" war drei Wochen lang in der Manege im Vorgarten des Kremls zu sehen. Jetzt kehrt sie zurück ins WDNCh, das Ausstellungszentrum im Osten der Hauptstadt, wo früher die Errungenschaften der sowjetischen Volkswirtschaft gezeigt wurden.

Vor der Manege haben sich zwei Schlangen gebildet. Die eine führt in die Ausstellung, die andere zur Ikone der Gottesmutter von Wladimir. Unter dem Schriftzug "Russland - meine Geschichte" neigen die Besucher ihre Häupter und küssen das Heiligenbild. Der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg ist die Stunde null, damit beginnt die Ausstellung. Gemeinsam wurde Hitlerdeutschland besiegt, aber was tun die vermeintlichen Verbündeten aus dem Westen? Sie schließen sich zusammen, um die Sowjetunion zu vernichten! Auf einem großen Bildschirm steigen Atompilze auf. Daneben sind "Pläne zur Bombardierung der UdSSR mit Atomwaffen" aufgeführt.

Damit ist die Lektion formuliert, die Raum für Raum variiert wird: Russland ist bedroht, der Westen wartet nur auf einen schwachen Moment. Dafür ist ihm jedes Mittel recht: Verrat, Zersetzung, wirtschaftlicher Druck, militärische Gewalt.

Der Eintritt ist frei, die Ausstellung ist voll. Schulklassen und Touristen treten sich auf die Füße. Durch die Räume führen sie junge Männer mit erstem Bart. Konzipiert hat die Ausstellungsserie die Kultur-Abteilung der orthodoxen Kirche unter Leitung von Bischof Tichon, der als geistlicher Ratgeber von Wladimir Putin gilt.

Über Deutschland erfährt eine Grundschulklasse, die BRD habe der DDR "ständig Unannehmlichkeiten bereitet, da musste man die Mauer bauen". Welche Unannehmlichkeiten? Das kann der Exkursionsleiter nicht sagen. Aber warum so viele Menschen aus der DDR geflohen sind, dazu hat er eine Idee: "Es sind Leute aus dem Westen gekommen, die haben den Menschen gesagt, dass sie schlecht leben."

Mit Zwischenfragen macht man sich nur unbeliebt. "Hören Sie auf mit Ihrer Propaganda!", schimpft ein weißhaariger Mann. "Woher kommen Sie? Ach, Deutschland. Na, jeder hat das Recht auf seine Interpretation."

Die russische Interpretation lautet: Immer ehrlich, nie verantwortlich - so sind die Russen. Die Fantasie erzählt viele schöne Geschichten. Zum Beispiel die von Helmut Kohl und Michail Gorbatschow. 50 Milliarden Dollar hätten Moskau dafür zugestanden, dass die Sowjetunion nach dem Krieg die Infrastruktur in der DDR wiederaufgebaut hat, berichtet ein Exkursionsführer. Aber nach reichlich Alkohol habe der deutsche Bundeskanzler die verzweifelte Lage des bedrängten kommunistischen Parteichefs ausgenutzt und ihm drei Millionen versprochen. Der musste zugreifen: "Stellen Sie sich vor: drei Millionen für 50 Milliarden!"

Die Wahrheit lautet: Im Februar 1990 sagte Kohl Gorbatschow einen Sofortkredit über fünf Milliarden Mark zu, auch um eine Zahlungsunfähigkeit der Sowjetunion und einen Sturz Gorbatschows abzuwenden. Beim Abzug der sowjetischen Streitkräfte zahlte die Bundesrepublik über 12 Milliarden, davon sollten unter anderem Wohnungen für Offiziere gebaut werden, die bis heute nicht übergeben wurden. Als Wladimir Putin an die Macht kam, beliefen sich die Schulden Moskaus gegenüber Deutschland auf 70 Milliarden Mark. Sieben Milliarden Euro erließ ihm bald der neue Kanzler Gerhard Schröder.

Authentizität gilt so wenig wie im Staatsfernsehen. Zur Illustration der Armut in den Neunzigerjahren ist ein Bild zu sehen, das leicht als Montage erkennbar ist: Eine heruntergekommene Frau, die ihren Gesichtszügen nach eher aus Südostasien stammt, steht auf dem Roten Platz zwischen Wäscheleinen voller Lumpen. Gewiss, es gab Armut. Aber dass jemand auf dem Roten Platz zwischen Lumpen lebte, das gab nie.

Wohl um die Erniedrigung plastischer wirken zu lassen, erzählt ein Exkursionsführer, Boris Jelzin habe beim Abzug der russischen Truppen aus Deutschland betrunken Ziehharmonika gespielt. Zwar gab der russische Präsident keine sehr würdevolle Vorstellung, als er das Militärorchester dirigierte. Eine Ziehharmonika aber war nicht im Spiel.

So viel ist die Rede davon, was das Ausland Russland angetan hat oder antun wollte, dass gar kein Platz bleibt für das, was die Bewohner der Sowjetunion einander angetan haben. Der Besucher lernt, dass die Kurven bei Industrieproduktion, Elektrifizierung und Landwirtschaft unter Stalin steil anstiegen. "Arbeitsam zu sein, hat sich unter Stalin gelohnt", erläutert der Guide, "Wenn man die Norm übererfüllte, bekam man doppelten Lohn." Zustimmendes Nicken der Besucher. Einziger Makel des Diktators: der Personenkult. Es habe Leute gegeben, die nicht einverstanden waren. "Aber sie waren vereinzelt. Natürlich wurden sie vom Westen finanziert." Das mit der Repression werde auch übertrieben, insgesamt seien nur einige Hundert wegen ihrer Überzeugung eingesperrt worden.

In den Neunzigern ließen sich schwache Führer beeinflussen, aber das ist zum Glück vorbei

Der Zerfall der Sowjetunion ist schnell erklärt: Der Westen finanzierte die Opposition in Osteuropa. Washington übte Druck auf die arabischen Förderländer aus, damit der Ölpreis sinkt. Derweil lagen die Verbündeten in der Dritten Welt der Sowjetunion auf der Tasche. In Afghanistan züchteten die Amerikaner Terroristen. Man ahnt, wohin das Ganze führt: In den Neunzigern ließen sich schwache Führer von Beratern aus dem Westen Ratschläge geben und machten Zugeständnisse, aber danach kam wieder einer, bei dem alle Pfeile nach oben zeigen.

© SZ vom 23.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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