Patricio Pron:Kongress der Faschisten

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Im April 1945 versammelt sich die internationale Rechte noch einmal in einer Kleinstadt bei Turin: Patricio Prons Roman "Vergieß deine Tränen für keinen, der in diesen Straßen lebt".

Von RALPH HAMMERTHALER

In Perugia treffen junge Dichter zusammen, immer wieder, eine Art Zirkel. Alles, was sie tun, geschieht halb im Spaß und halb im Ernst, sie provozieren das Publikum, um es kurz darauf wieder zu umgarnen, durchaus gefallsüchtig. Auf einer Lesung wird einer der Ihren mit Eiern und Tomaten beworfen, die Tomaten von hoher Qualität, weil in einer Gegend wie Umbrien keine schlechten Tomaten wachsen. Alle verstehen sich als Futuristen und Faschisten, wenngleich der Futurismus im Faschismus nicht aufgeht, in erster Linie, heißt es einmal, "eine vitale Haltung", nicht einfach Ästhetik, sondern "eine kämpferische Haltung gegenüber dem gesamten Leben". Futurist oder Faschist - das sind hier keine Schimpfworte.

Später schließt sich einer der Dichter, weil vital und kämpferisch, dem Krieg der Italiener in Äthiopien an, nicht ohne vorher seine Texte in eine Kiste zu legen und dem gleichfalls dichtenden Freund Borrello anzuvertrauen. Der Dichter fällt im Kampf, worauf ein anderer dichtender Freund, nämlich Gerassino, den Einfall hat, die Kiste mit dem Nachlass zu klauen und die Texte, ein bisschen in Form gebracht, unter seinem Namen zu publizieren. Ein wahrer Futurist würde höchstens mit den Schultern zucken, was soll's, Diebstahl ist auch nur eines von vielen literarischen Verfahren. Aber Borrello nimmt diese Unverschämtheit nicht hin, er stürmt in ein Restaurant, wo die Dichter halb im Spaß und halb im Ernst zusammensitzen und schießt vier oder fünfmal auf Gerassino, wobei er ihn ebenso oft verfehlt, da er schlecht sieht.

In seinem neuen Roman "Vergieß deine Tränen für keinen, der in diesen Straßen lebt" denkt sich Patricio Pron einen Kongress faschistischer Schriftsteller aus, in einer Kleinstadt bei Turin im April 1945, kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Dadurch soll der von Feinden umzingelten und beinahe täglich schrumpfenden Sozialrepublik Italien unter Mussolinis Führung noch einmal aufgeholfen werden, propagandistisch, vital und mit kämpferischem Geist. Auf dem Kongress sehen sich die faschistischen Futuristen aus Perugia teils nach langen Jahren wieder, selbst Borrello und Gerassino. Aber auch ein paar nicht erfundene Deutsche wie Hanns Johst oder Heinrich Zillich sind dabei, noch dazu Franzosen, Spanier, Bulgaren, Amerikaner. Ezra Pound ist verhindert, schickt aber ein Solidaritätstelegramm, Marinetti lebt schon nicht mehr. Uneins sind sie immer dann, wenn ein faschistisches Lied angestimmt werden soll, ja gut, aber welches? In der Regel setzen sich die Deutschen durch. Ganz still wird es im Saal, als ein Bombengeschwader über die Köpfe hinwegfliegt.

Es ist beinahe, als hätte Pron das Manuskript aus dem Nachlass von Roberto Bolaño geklaut

Patricio Pron wurde 1975 in der argentinischen Stadt Rosario geboren, er hat in Göttingen studiert und dort in Romanistik promoviert, heute lebt er in Madrid. Wer in Madrid in eine Buchhandlung geht, wird eines seiner Bücher ganz vorne auf einem Tisch liegen sehen: "Der Geist meiner Väter steigt im Regen auf", schon damals ein Titel ohne Furcht vor Kitsch. An dieses Buch erinnert sich bald keiner mehr. Das wird bei "Vergieß deine Tränen ..." vermutlich anders sein. Der aktuelle Roman ist ein starkes Stück Literatur, politisch, skeptisch, offen und verletzlich, sprachlich verführerisch, raffiniert konstruiert und nicht ohne Humor.

Überreste faschistischer Architektur in Italien: Die Kongresshalle im EUR-Viertel in Rom. (Foto: mauritius images / Luciano Mortu)

Aber es ist auch ein Roman im Geist von Roberto Bolaño, beinahe so, als hätte Pron das Manuskript aus dem Nachlass geklaut und unter seinem Namen veröffentlicht, wie der gerissene Futurist Gerassino. Man weiß ja, wie sehr der frühe Bolaño von faschistischer Literatur fasziniert war, auch von faschistischen Gesellschaftsspielen, zum Beispiel in "Das Dritte Reich". Kaum einer kannte sich so gut aus in Texten von Schriftstellern der rechtsextremen Action française wie er. Von düsteren Zukunftsvisionen, einer "möglicherweise faschistischen Superneuzeit", wie sie die von ihm geliebten Science-Fiction-Autoren entwarfen, sei Bolaño, so vermutete unlängst ein mexikanischer Literaturkritiker, nicht unbeeinflusst geblieben. In seinem ersten Roman "Der Geist der Science-Fiction" gibt es Spuren davon.

Wenn Pron von einem Flugzeug berichtet, das, gut futuristisch, ein Risottorezept in den Himmel schreibt, dann denkt man an Bolaños Roman "Stern in der Ferne", in dem ein Pilot bei einer Flugschau in waghalsigen Manövern ebenfalls Verse in den Himmel schreibt. In einem langen Kapitel im Stil eines Lexikons führt Pron die Biografien seiner erfundenen und realen Figuren auf. So hat es Bolaño in "Die Naziliteratur in Amerika", einem fiktiven Handbuch mit bibliografischen Angaben, vorgemacht. Auch im erzählerischen Ton klingt das Vorbild an, was aber, wenigstens im Deutschen, auch an dem fabelhaften Christian Hansen liegen mag, der nicht nur Pron, sondern eben auch Bolaño übersetzt.

Warum sollte man also eine Nachschöpfung von Pron lesen, wenn man das Original von Bolaño haben kann? Weil Prons literarische Kraft auf diesen gut vierhundert Seiten nie erlahmt, immer wieder verblüfft und über Epigonales hinausgeht. Gerahmt wird die Geschichte vom Fascho-Kongress durch den jungen Pietro Linden, dem extremistisches Denken nicht fremd ist, wenn auch nicht von rechts, sondern von links außen. In den Siebzigerjahren spioniert er für die Roten Brigaden die Wege eines Professors aus, der kurz darauf einem Anschlag zum Opfer fällt.

Ideologien lassen vergessen, wie genau der eine den anderen kennt, seinen Feind

Vorher beobachtet ihn Linden dabei, wie er in einer Buchhandlung eine Bestellung aufgibt. Die Bücher holt er, Bestürzung über den Mord an dem Professor vorspiegelnd, später selber ab, ein gutes Bündel faschistischer Literatur.

Der argentinische Schriftsteller, Übersetzer und Kritiker Patricio Pron lebt heute in Spanien. (Foto: imago images / ZUMA Press)

Er beschließt, die Verfasser, sofern sie noch leben, aufzusuchen und sie nach dem Kongress von 1945 zu befragen, vor allem nach dem Schicksal von Borrello, dem wilden Schützen mit der schwachen Sehkraft. In Monologen der alt gewordenen, einst in Perugia unter dem Stern des Futurismus vereinten Faschisten ergibt sich ein zitterndes, weil in den Details nicht immer historisch stimmiges Bild von dem, was damals geschah. Einer der Alten durchschaut Linden. Erst spricht er ihm und seiner Generation ab, auch nur das Mindeste von der damals angestrebten faschistischen Alternative zu verstehen, dann spielt er die kommunistische Alternative herunter, zumal deren gewaltsame Methoden. (Unter Lindens Jackett ist ihm eine Pistole ins Auge gestochen.) Vor der Haustür wird Linden verhaftet, vielleicht durch den Alten verraten, vielleicht nur zufällig dort. Irrtümlich der Entführung des christdemokratischen Politikers Aldo Moro verdächtigt, wird er zu acht Jahren Gefängnis verurteilt.

Nur zu gut weiß Pron, dass die "Ereignisse" durch erzählerische Absicht "von einer Logik verraten werden, die ihnen übergestülpt wird". Darum lässt er vieles in der Schwebe. Ungeklärt bleibt, wie Borrello während des Kongresses umgekommen ist. War es Mord, Selbstmord, ein Unfall? Dieser Borrello hat Lindens Vater, einem Partisan, der auf der Flucht einen Hang hinabgestürzt ist, das Leben gerettet. Die Episode, wie Borrello den Vater gesund pflegt, wie der Rechte und der Linke einander belauern, wie sie dann, fast ohne Worte, so etwas wie Freundschaft schließen, ist schnörkellos gut erzählt. Und sie deckt sich mit Prons Einschätzung von Ideologien - "Worte im Überfluss", die nichts als Verwirrung stiften und dadurch vergessen lassen, wie genau der eine den anderen kennt, seinen Feind.

Ein Brigadier soll den Fall Borrello untersuchen. Weil er bisher nur wenig dazu sagen kann, tut er so, als wüsste er schon alles. Schneidig betritt er den Konferenzsaal, aber das ganze Milieu stößt ihn ab. "Nachdem alle fort waren, atmete er tief durch, als hätte er bis jetzt die Luft angehalten, überzeugt, dass eine von Schriftstellern geatmete Luft zwangsläufig eine verdorbene Luft sein müsse - was sie natürlich auch ist - und gab uns ein Zeichen, uns zu ihm zu setzen."

Patricio Pron : Vergieß deine Tränen für keinen, der in diesen Straßen lebt. Roman. Aus dem Spanischen von Christian Hansen. Rowohlt Verlag, Hamburg 2019. 416 Seiten, 24 Euro.

© SZ vom 12.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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