Berlin, Prenzlauer Berg, Pasteurstraße. Zwei stumpfe Enden einer Häuserzeile stehen sich gegenüber: Auf den Blechplatten, die die Brandmauern bekleiden, hat die Zeit der weißen Farbe weniger zugesetzt als dem Blau. Ein Bombenschaden. Nach der Wende befand sich davor ein West-Supermarkt und ein Vietnamese mit Schmuggelzigaretten. Auf einem schmalen Streifen saßen Trinker zwischen Pappeln und Hundepisse.
Der Fotograf Harf Zimmermann macht ein Diptychon aus den beiden blinden Mauern, rückt nah heran, der Innenhof fällt weg. Zimmermanns Bilder zeigen, dass aus dem Blechkleid in regelmäßigen Abständen kleine Quadrate ausgeschnitten sind, umkränzt von einer leuchtenden Markierung. Rechts, am unteren Rand des Rechtecks erklärt ein Sprayer die Welt: "ORDER".
Die großformatigen Aufnahmen sind Teil des wunderbar kreuznüchternen Bildbandes "Brand Wand", der gerade im Steidl-Verlag erschienen ist. Mehr als fünfzehn Jahre ist Zimmermann durch Berlin, Leipzig, Dresden und Warschau gelaufen, mit einer schweren Plattenkamera im Gepäck, nicht selten stand er auf einer Hebebühne.
Er hat Mauern gesucht, die unsichtbar sein sollen. Wo die Brandmauer sichtbar ist, ist sie Verweis auf eine Lücke. Eine Brandmauer hat keinen ästhetischen Anspruch, sie ist eine baustatische Versicherung gegen das Übergreifen von Flammen.
Bei dem Schriftsteller, Proust-Übersetzer und großen Spaziergänger Franz Hessel ist es 1929 die Straße, in der "ältere Zeiten durchschimmern durch die Gegenwart". Zimmermann sucht heute an diesen Mauern nach älteren Zeiten. Findet: Fensterdurchbrüche, Ofenschächte, verblasste Werbebotschaften, Umrisse eines Hauses. Reste eines Ballsaals, naive Malerei.
Zimmermann "mochte, wie es in der DDR aussah, das Gemauerte, das Kahle". "Brand Wand" offenbart nun Spuren einer Vergangenheit, in der es nicht die Mittel gab, Lücken städtebaulich nachzuverdichten, keine Bodenspekulanten oder Immobilienentwickler. Und keine Graffiti.
Die Veröffentlichung - eine Leidensgeschichte, eineinhalb Jahre nach dem geplanten Termin
Die gibt es nun reichlich. Und damit ein Problem. Denn im Buch sollte ein weiterer Bogen erscheinen. Dessen Veröffentlichung indes geriet zur Leidensgeschichte, der Band erscheint fast eineinhalb Jahre nach dem angekündigten Termin. Als Zimmermann vorab einen Abzug der Serie in der Ausstellung Paris Photo zeigte, zückt dort jemand sein Smartphone, macht ein Foto und verschickt es. Und dann passiert, was Zimmermann fassungslos macht: Er hatte in Warschau fotografiert, ein viergeschossiges Wohnhaus ist da weggerissen, an der Mauer welkte ein großes, mit "Yola" signiertes Paste-up. Die Frau, der man Zimmermanns Foto schickte, ist denn auch die polnische Street-Art-Künstlerin Yola. Sie ornamentiert Fotografien, zieht sie auf Papierbögen, klebt diese an Hauswände. Mit Genehmigung. In Warschau sind es sechs Personen und ein Jesus: eine Pietà.
Yola, eigentlich Jola Kudela, war verärgert, dass jemand ihre Arbeit als seine hinstellte, ohne Verweis auf sie: Machte da wer Geschäfte mit ihrer Kunst? Zimmermanns Galerie wimmelt sie zwar ab, doch die Frage führt direkt in einen tiefen Umwälzungsprozess, in dem sich der Kunstbetrieb gegenwärtig befindet.
Yola klebt ihre Kunst in die Öffentlichkeit. In Frankreich, Belgien, Griechenland oder Italien geht die Rechtsprechung mit Kunst am Bau, Bildern von Gebäuden und Kunst auf öffentlichen Plätzen restriktiv um. Persönlichkeits- und Eigentumsrechte überschreiben die sogenannte Panoramafreiheit, die in Deutschland gilt.
Henri Cartier-Bresson könnte heute in Frankreich nicht mehr arbeiten - Persönlichkeitsrechte
Diese hierzulande geltende Straßenbildfreiheit ist eine Einschränkung des Urheberrechts, die es ermöglicht, geschützte Werke - Gebäude, Kunst am Bau oder Kunst im öffentlichen Raum - bildlich wiederzugeben, ohne dass hierfür der Urheber des Werkes um Erlaubnis gebeten werden muss. Dies betrifft sowohl das Anfertigen einer Fotografie als auch ihre Verwertung. In Frankreich ist das anders. Das berühmteste Beispiel ist der Eiffelturm, den man bei Tage fotografieren und dessen Bilder man verbreiten darf. Nachts gelten andere Regeln: Eine Lichtfirma hat sich das Copyright gesichert, mahnt Gebühren an, wenn ein Foto ausgestellt oder verkauft werden soll. Henri Cartier-Bresson könnte heute in Frankreich nicht mehr arbeiten - Persönlichkeitsrechte.
"Soll ich bei jedem Mist, den jemand an eine Wand malt, den Urheber fragen, ob ich das fotografieren darf?", fragt nun der Fotograf Zimmermann. Aus Nachlässigkeit hatte er nicht weiter zu Yola recherchiert. "Er hat es sich leicht gemacht," sagt diese am Telefon, "er wollte ein Bild verkaufen, in dessen Zentrum meine Arbeit steht."
Kudela ließ sich also nicht abwimmeln, schrieb eine Mail an Paris Photo. Im laufenden Messebetrieb ein Bild abzuhängen, ist unschön. Zimmermann und Kudela sprechen mit Anwälten, ihre direkte Verhandlung missrät. Sie will, dass er die Autorenschaft am Bild mit ihr teilt.
"Ich habe von Klaus Staeck gelernt, dass es sich nicht lohnt, mit Anwälten über so etwas zu reden," sagt der Verleger Gerhard Steidl. "Dann ist es nämlich zu spät. Wir hätten uns sicher mit der Künstlerin einigen können, unser Risiko wäre gewesen, die komplette Auflage einzustampfen. So ein Risiko muss man eingehen, aber ich habe Harf Zimmermann die Entscheidung überlassen." Zimmermann schüttelt den Kopf: Co-Autorenschaft? "Diese Linie überschreite ich nicht," erklärt er. Also müssen die Bögen im Band neu gedruckt werden. Das ist finanziell aufwendig. Kudela sagt: "Er hätte einfach nur nachfragen müssen, an der Wand klebt noch meine Signatur!"
Auch wenn Harf Zimmermann nicht gerade elegant vorging, nach deutschem Recht hätte er das Bild aufhängen, verkaufen und drucken lassen können: Die Mauer ist öffentlich einsehbar. Steidl aber will den Band auch in Frankreich verkaufen, unmöglich ohne das Einverständnis von Yola.
Übrig bleibt die Doppelseite, auf der das blaue Blech dann ein Verweis auf den Sprayer Blu ist. Zimmermann hat auch dessen Bilder aus dem Band entfernt, um sich weiteren Ärger zu ersparen. Blu übermalte seine hauswandhohen Graffiti, er wollte nicht, dass sie weiter fotografiert und in Umlauf gebracht werden. Harf Zimmermann scheint resigniert zu haben. "Ich kann Künstler wie Yola und Blu verstehen, die jeden Euro in ihre Projekte stecken. Aber ich sehe immer weniger, wie ich noch arbeiten soll."
Harf Zimmermann: Brand Wand. Steidl Verlag, Göttingen 2015, 108 Seiten, 78 Euro.