Oratorium:Todbringender Wahn

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Nigel Lowery inszeniert Händels "Hercules" in Mannheim und mit einem Trick: Die Bühne imitiert Buchillustrationen.

Von egbert tholl

Der Held kehrt heim, und es passiert erst einmal nichts von dem, was man nun erwarten würde. Zwölf Jahre hat Dejanira auf ihren Gatten Hercules gewartet, der in den Krieg gegen König Eurytus gezogen war. Einst hatte er bei diesem um die Hand von dessen Tochter Iole angehalten, sie wurde ihm verweigert, nun, viele Jahre später, erschlug er den König und dessen Söhne und kehrt mit Iole als Kriegsbeute zu Dejanira und seinem inzwischen erwachsenen Sohn Hyllus zurück.

In jeder Oper würde es an dieser Stelle einen Triumphzug, einen Jubelchor und ein glückliches Duett der wiedervereinigten Eheleute geben. In Georg Friedrich Händels "Hercules" tritt der Held zwar mit Gefolge, aber ohne Tamtam auf, dankt in einem Rezitativ den Göttern, gewährt Iole die Freiheit und freut sich auf Dejanira. Die sagt nichts, scheint gar den Auftritt verpasst zu haben, die erste Arie in dieser Szene singt Iole, die um ihren Vater trauert.

Unter allen bühnenwirksamen Werken Händels dürfte "Hercules" eines der seltsamsten sein. Im Jahr 1745 war es Teil eines neuen Geschäftsmodells. Zuvor schon hatte Händel während der Fastenzeiten in London erfolgreich seine Oratorien etabliert, nun expandierte er, mietete ein eigenes Theater und wollte mit einer langen Aufführungsserie die italienische Oper endgültig vom Markt verdrängen. "Hercules" ist ein weltliches Oratorium - Händel nennt es "musikalisches Drama" -, es wird darin englisch gesungen, es erinnert stark an Oper, wurde aber ohne Kostüme und szenische Aktion aufgeführt. Man muss sich die Premiere wohl als harten Gegensatz zur sinnlichen Opulenz der italienischen Opernaufführungen vorstellen - sie wurde zum Desaster. Nun kam "Hercules" in Mannheim heraus, zum ersten Mal dort am Nationaltheater, und das Publikum reagierte gleichermaßen verwundert wie begeistert.

Nigel Lowery, Regisseur, Bühnen- und Kostümbildner in Personalunion, verfällt auf einen tollen Trick, um das handlungsarme, rein einer inneren und musikalischen Logik folgende Geschehen auf die Bühne zu bringen. Er orientiert sich an mittelalterlichen Buchillustrationen, aus einer Zeit also, als im Vorgriff auf die Renaissance antike Stoffe in Europa wieder populär wurden. Das schaut zunächst befremdlich aus und ist reines Theater. Auf der Bühne drei gotische Spitzbögen, die Säulen deutlich als Attrappen zu erkennen, die Mauern stilisiert gemalt, mal wandert der Mond durch Fenster, mal fällt Schnee. Alle Figuren tragen Wams und Hut, schauen aus wie beim Jahrestreffen der Burgfräuleins oder wie bei der 1000-Jahr-Feier einer mittelalterlichen Stadt. Doch durch diese bildliche Distanz gelingt es Lowery, den Kern der Geschichte freizulegen und hochspannend zu erzählen. Dieser Kern ist reine Psychologie und beschreibt die Eifersucht der Dejanira als Auswuchs blühender Hysterie.

Händel und sein Librettist Thomas Broughton drehen hier kontinuierlich an einer Schraube. Erst wird Dejanira von Sehnsucht gepeinigt, dann sieht sie Iole und verliert Stück für Stück jeglichen Bezug zur Realität. Händel nutzt die Oratorienform, um mit der Konvention zu brechen, Rezitative, Accompagnatos und Arien meist ohne Da-Capo-Stillstand werden zu einem dichten, fast atemlosen Verlauf zusammengeschweißt. Auf dem Höhepunkte des Wegdriftens Dejaniras aus der Realität brüllt der Chor "Eifersucht, o Höllenfluch", kündet von Wahn und Trug, wie überhaupt die kompakten Chorauftritte meist das inhaltliche Resümee der vorangegangenen Szene bilden. Alles ist Rhetorik, und in Mannheim ist nun, in der Mitte des zweiten von drei Akten, Pause.

Bis dahin schaut man fasziniert Mary-Ellen Nesi zu, die über alle stimmlichen und darstellerischen Mittel verfügt, aus der Dejanira einen leidenden Menschen zu machen, weit jenseits eines durchgeknallten Schreckschraube. Man wird Zeuge eines fortschreitenden Wahns, Nesi rührt dabei und beherrscht die emotionale Wucht einer jeden Koloratur. Um sie herum ein Wesen von kaum zu greifender, im Bild einer Mittelalterfigur verschwimmenden Geschlechteridentität, der Bote Lichas, gesungen von Ludovica Bello. Hier, bei Nesi und Bello, geht Lowerys Konzept der bildlichen Fremdheit absolut zwingend auf; nichts lenkt von den Figuren ab, abstrakt ist es dennoch nicht, sondern eine packend erzählte Geschichte.

Am Ende sind es wieder die Götter, die das Glück richten müssen

Nach der Pause bricht dann immer stärker die Komik durch, die Händel durchaus anlegt, die hier aber viel kaputt macht. Dejanira veräppelt ihren Gatten, den bärig sympathischen Thomas Berau, mit Episoden aus dessen Vergangenheit, die Musik wird zunehmend konventioneller, als habe Händel keinerlei Lust auf das angepeilte glückliche Ende gehabt und behülfe sich fast gelangweilt mit Chiffren. Beherzt lässt Bernhard Forck mit Unterstützung einer farbenreichen Continuo-Gruppe das Orchester des Nationaltheaters dagegen anspielen, schafft viel lichte, cremige Schönheit. Doch die Struktur stagniert.

Schließlich stirbt Hercules, fast aus Versehen: Dejanira will mit einem Zauberkleid, von Zentaurenblut getränkt, seine - in Wahrheit ja nie verloren gegangene - Liebe wiedererringen. Das Kleid jedoch frisst Herkules' Fleisch, bei Lowery ein bizarrer Splattermoment, der Held fährt mit einer Mondrakete gen Olymp - und die jungen Leute heiraten auf Geheiß eines Götterboten. Hyllus (David Lee) verliebte sich in Iole, die mit Stimmpracht prunkende Eunju Kwon, schon beim ersten Anblick. Nun richten die Götter das Glück, und die beiden singen das einzige Duett eines Dramas, das holprig zu Ende geht und doch mindestens eineinhalb Stunden lang ein fesselndes Meisterwerk ist.

© SZ vom 13.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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