Opernfestspiele München:Heiße Herzen, kalte Kuben

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Die machtbewusste Agrippina (Alice Coote, rechts) und ihre lebenslustige, von vielen Männern umworbene Gegenspielerin Poppea (Elsa Benoit). (Foto: Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper)

Postenschacher, Macht, Erotik: Händels "Agrippina" in der Regie von Barrie Kosky ist das Opern-Pendant zum heutigen Irrsinn in der Politik. Ein Abend mit Verve.

Von Reinhard J. Brembeck

Am Schluss bleibt nur die Einsamkeit der Intrigantin. Nach dreieinhalb Stunden Niedertracht, Heimtücke, Schmierenkomödie, Lügereien und Giftspritzerei sitzt die sonst so entschlossene Agrippina traurig in sich zusammengesunken und von allen im Stich gelassen auf einem Stuhl. Alice Coote zeigt die römische Kaiserin resolut als eine in die Jahre und der Liebe abhanden gekommene Frau, die von Anfang an nur eines will: ihren ungeratenen Sohn Nerone auf dem Kaiserthron sehen. Franco Fagioli, dieser sich wollüstig und agil in den höchsten Höhen tummelnde Meistersopranist mit einem Tattoo auf der Glatze und einer Vorliebe für grelle, schräge Kostüme, dieser Franco Fagioli gibt den längst erwachsenen Nerone als verzogenes Kind, das immer seinen Launen erliegt, meistens schmollt, nichts kann und alle drangsaliert. Aber Mutterliebe ist blind und skrupellos. Zuletzt bekommt die Machtfrau Agrippina ihren Willen und das römische Reich Nero als Diktator verpasst.

Rebecca Ringst hat für Georg Friedrich Händels "Agrippina" - das 1709 in Venedig uraufgeführte Stück ist die erste dramatisch vollauf gelungene Oper des Meisters - einen zweistöckigen Dreiteiler aus Metall auf die Bühne des Münchner Prinzregententheaters gestellt. Über eine Treppe wuseln, turnen, slapsticken die zwei Intrigantinnen und ihre sechs Männer rauf und runter. Der gern gedrehte und bewegte Metallblock löst sich bald in seine Teile auf, die das Personal an den Bühnenrand drängen oder ihnen die Flucht von der Bühne verstellen. Dieses Stahlgerippe mit seinen harten Kanten und seiner dunklen Wucht ist Abbild der Welt, wie wir sie bewohnen, feindlich, unzuverlässig, abweisend, bedrängend. Damit ist es die ideale Kampfzone für Agrippina, verrät doch dieses Bühnenbild bereits alles über die Seelenschrunden der Titelheldin. In denen niemand daheim sein will, genauso wenig wie in den kalten Kuben der Rebecca Ringst.

Alice Cootes Agrippina nutzt die Männer nach Strich und Faden aus. Das wird ihr vom bis heute nicht mit Sicherheit identifizierten Librettisten dieses genial zynischen Textes wie auch vom Komponisten recht leicht gemacht. Denn alle sechs Männer sind schwach und sexsüchtig. Mit den Höflingen Narciso und Pallante gibt sich die Kaiserin wenig Mühe. Da lässt Alice Coote die ganz große Schmiere vom Stapel, da gurrt sie, schmachtet, gibt sich finster und als Sadistin, bis den beiden angst und bange wird. Aber immer sind da deutliche Spuren von Melancholie in Cootes Singen, Spiel und Haltung, die sich durch alle Berechnung hindurch Raum schafft an diesem Abend. Letztlich treibt diese furchtbare Frau der Verlust jeder Liebe um. Der Einzige, der sich ihrer Liebe (noch) nicht entziehen kann, ist das Muttersöhnchen Nerone, der sie aber, kaum dass er den Lorbeer trägt, noch kälter als alle anderen links liegen lässt.

Der genialste Kunstgriff des Librettos besteht darin, dass es der alternden Agrippina ihr eigenes Jugendbild in Form der liebesgierigen Poppea entgegenstellt. Ja, so muss die Agrippina früher gewesen sein: quirlig, lebenslustig, leidenschaftlich, von allen Männern begehrt und schon damals äußerst gelehrig in Fragen der Menschenmanipulation. So gelehrig, dass sie schon bald die Alte austrickst. Elsa Benoit gibt die Poppea mit äußerster Brillanz. Sie zwitschert, schmachtet und lockt, sie tanzt, schlägt Kapriolen und hat dabei fast immer nur ihren Traummann Ottone im Kopf, einen korrekten, seriösen Militär. Dieses Klischee erfüllt der Countertenor Iestyn Davies auf den Punkt, aber kein bisschen langweilig. Bald wird er vom Retter des Vaterlands zu einem malträtierten Sündenbock, den ein missgünstiger Höfling mit der Stahlstange blutig schlägt.

Enorme Spielfreude und abgrundtiefe Trauer schließen sich hier nicht aus

Mit dieser niederschmetternden Studie über Ausgrenzung und Hass, in der Iestyn Davies ganz bei sich und seiner Aufrichtigkeit bleibt, entlässt der Regisseur Barrie Kosky sein Publikum in die Pause. Der Chef der Komischen Oper Berlin hat eine Vorliebe für körperbetontes Spieltheater in der britischen Tradition, Slapstick, Nonsens, Gaudi und Klamauk inbegriffen. Neuerdings gelingt es Barrie Kosky immer trefflicher, die Spielfreude seiner hinreißenden Sänger mit abgründigen Bildern voller Schmerz und Trauer kurzzuschließen, so etwa vor zwei Jahren in seiner Inszenierung von Richard Wagners "Meistersingern" in Bayreuth. In "Agrippina", einer Produktion der Münchner Opernfestspiele, stehen dafür der kollektive Hass des Mobs auf Ottone genauso wie die zunehmende Vereinsamung der Titelheldin. Koskys Können gipfelt darin, dass die Spielenergie (bis hin zum Chargieren) und das abgrundtief Traurige sich nicht als Fremdkörper ausschließen, sondern zu einer doppelbödigen Einheit zusammenfinden.

Händels Musik unterstützt dabei ganz die Seite der verborgenen Gefühle und seelischen Verletzungen. Mögen die Männer auch als alberne Lustmolche über die Bühne schleichen, mag Agrippina noch so hinterhältig ihr Ziel verfolgen, immer gibt die Musik den Figuren jene Würde zurück, die sie durch ihr würdeloses Rumgemache beständig einbüßen. Das gilt auch für Gianluca Burattos Kaiser Claudio, der so gar nichts Kaiserliches an sich hat. Buratto singt seine vollen Basstöne ungekünstelt geradeheraus. Dieser Claudio schert sich wenig um Finessen, das Staatstragende ist nicht seine Sache, die Unlust hält ihn von seiner Gattin Agrippina fern, die Lust treibt ihn hin zu Poppea. Die in der komischsten Szene des Abends von drei Männern gleichzeitig - die sie bei sich im Wohnzimmer versteckt hat -, angemacht wird, was nicht nur dem Slapstick dient, sondern die virtuoseste Intrige dieses intrigenreichen Stücks ist. Da ist die Musik dann bloß noch Staffage. Schließlich fehlt dem frühen Händel meistens die Doppelbödigkeit, da ist er noch ganz der Direktheit des frühen Barock verpflichtet, die pro Stück immer nur einen genau umrissenen Ausdruckscharakter zulässt.

In "Agrippina" fehlt die zentrale, oft zehnminütige Hauptarie, die in Händels späteren Opern den emotionalen Mittelpunkt bildet. Die Arien sind hier stattdessen kurz gehalten, sie spitzen die szenischen Momente zu, schließen sie ab und sind unmittelbar Ausgangspunkt für die dramatische Fortsetzung.

Die Unruhe ist deshalb groß und der Handlungsreichtum enorm: Das Stück liefert ein genaues Pendant zum Irrsinn in der Politik heute. Der Dirigent Ivor Bolton, der den Münchner Händel-Boom vor 25 Jahren mit einem sensationellen "Giulio Cesare" ausgelöst hat, dirigiert wie gewohnt mit Verve und tänzerischem Schwung. Auch wenn das klein besetzte, auf modernen Instrumenten spielende Staatsorchester in seltenen Fällen etwas zu romantisch dick aufträgt - Bolton fordert das leidenschaftliche Pathos geradezu heraus -, entfaltet der Abend einen großen musikalischen Sog. Vor allem weil bei Bolton die nur von Cembali, Theorbe, Orgel, Cello begleiteten Rezitative, diese nur ansatzweise gesungenen Textmengen, mit der gleichen Intensität daherkommen und genauso detailverliebt auf den Ausdruck hin gearbeitet sind wie die Arien. Es ist dieser Ausdruck, der die Titelheldin immer tiefer in die Einsamkeit führt. In eine Kälte, die den Zuhörer schaudern macht.

© SZ vom 25.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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