Niederlande:Vom schattenhaften Glück des Augenblicks

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Die späte Wiederentdeckung des Nachkriegswerks der wunderbaren Schriftstellerin Josepha Mendels.

Von Ulrich Rüdenauer

Man muss besonders naiv, besonders rücksichtslos oder besonders begabt im Verdrängen sein, wenn man so wie Frans Winter durch die schlimmsten Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts stolpert. Frans ist ein jüdischer Dichter, der vor Hitlers Expansions- und Vernichtungsdrang aus seiner Heimat, den Niederlanden, nach London flieht. Der Weg dahin: ein einziges Taumeln, das der Gutgläubige wie der tragikomische Held eines Ernst-Lubitsch-Films übersteht. Im Exil angekommen, scheint er die Verbindung zur Heimat für ein paar Jahre ganz zu kappen - ein Intermezzo in seinem Leben. An die in Eindhoven zurückgelassene Frau und die Kinder denkt er kaum, höchstens als an Menschen, die in der Zukunft auf ihn warten.

"Im Fernglas" ist das Kommende immer schon sichtbar und wird in kleinen eingestreuten Kapiteln erzählt. Darin scheint das spätere Leben auf und verleiht so dem Jetzt eine Bedeutungslast, an der weniger Frans als wir Leser zu tragen haben. Für Frans ist die Gegenwart ein akuter Ausnahmezustand. Und der Mann kann nicht aus seiner Haut, er bleibt ein Liebender. Also liebt er im Exil die Schicksalsgenossin Henriëtje, die er im Londoner Hyde Park kennenlernt und mit der er eine bescheidene Unterkunft teilt.

Henriëtje füllt mehrere Leerstellen im Leben von Frans aus: die der Trösterin, Ehefrau, Liebhaberin. Die beiden geben sich Kosenamen und begehren sich umso mehr, als sie wissen, dass ihre gemeinsame Zeit an die Dauer des Krieges gebunden ist. Als Frans am Ende der Emigrationszeit die Nachricht vom Tod seiner Mutter erhält, lässt er zum ersten Mal in sein Bewusstsein dringen, dass die Zuhausegebliebenen in größter Gefahr lebten. Die Mutter ist 1943 in Theresienstadt umgekommen. Er habe den ganzen Krieg mit Jungsaugen gesehen, gibt Frans zu.

Josepha Mendels hat diesen traurigen Träumer, diesen Homme de Lettres und mehr noch à Femmes im Jahr 1948 erfunden oder vielleicht aus ihren Erfahrungen im Exil zusammengesetzt. Unter dem Titel "Du wusstest es doch" ist der Roman in diesem Sommer zum ersten Mal auf Deutsch erschienen, in der Übersetzung von Marlene Müller-Haas, überhaupt ist dies das erste Buch der 1995 gestorbenen Autorin, das hier publiziert wird.

Ihm werden eine Herkunft und eine Identität aufgezwungen, die ihm bedeutungslos vorkamen

Mendels wurde 1902 in Groningen in eine jüdisch-orthodoxe Familie hineingeboren, ging als Journalistin nach Paris, emigrierte nach London, wo sie sich als Angestellte eines Nachrichtendienstes durch die Kriegszeit schlug. Danach kehrte sie zurück nach Frankreich, arbeitete in der Pressestelle der niederländischen Botschaft, bekam einen Sohn, schrieb Romane, die wenig erfolgreich waren. Erst in den achtziger Jahren wurde Josepha Mendels in den Niederlanden entdeckt, dank der feministischen Literaturwissenschaft. Nicht nur ihre Bücher wurden nun gebührend rezipiert, auch ihr selbstbewusstes und eigensinniges Leben erfuhr eine Würdigung. Es folgten Ehrungen, und in ihren letzten Lebensjahren kehrte Mendels zurück in ihre Heimat.

So wie ihr Held Frans 40 Jahre zuvor. Es gehört zu den anrührenden Szenen des Romans, wie Frans und Henriëtje nach zwei Jahren des verschatteten, aber doch berauschenden Glücks voneinander Abschied nehmen. Und zu den sonderbaren, denn erst, als er bei der Botschaft um die Papiere für seine Rückkehr in die Niederlande ersucht, wird Frans sich seiner selbst ganz bewusst und fremd zugleich. Ihm werden eine Herkunft und Identität aufgezwungen, die ihm bislang bedeutungslos vorgekommen waren. Man wolle nicht so viele "Israeliten" zurücksenden, wird ihm von einem Botschaftsmitarbeiter beschieden. Die Propaganda der Nazis habe allzu gut gewirkt, in Holland sei der Antisemitismus verbreitet, man möchte ihn durch die Remigranten nicht weiter schüren.

"Jude! Du bist jetzt gebrandmarkt", grübelt es in Frans. "Du wirst nirgends mehr hingehen können, ohne dass sie dich mit dieser Gattungsbezeichnung etikettieren. Du bist kein Dichter mehr, kein Regierungsbeamter, kein Mann, kein Liebhaber, kein Sohn, du bist ein jüdischer Dichter, ein jüdischer Regierungsbeamter, ein jüdischer Mann, ein jüdischer Liebhaber und, ob du es willst oder nicht, ein Sohn des alten Volkes. Ich, der für sich als einzig möglichen Weg die Freiheit gewählt hat, ich werde einer bestimmten Gruppe angehören müssen, bestimmte Gesetze befolgen müssen, dies ist einem Juden gerade noch erlaubt, jenes nicht mehr. Ich ein Jude?" Josepha Mendels dürfte unter solchen Zuschreibungen ähnlich gelitten haben wie ihr Held.

In den Roman ist die Geschichte von Henriëtjes Schwester Mirjam eingebaut, als auch stilistisch herausfallende Binnenerzählung. Mirjam teilt mit ihrem jüdischen Mann den festen Glauben an die bürgerliche Welt, der sie ihr ganzes Selbstverständnis verdanken. Sie verstehen nichts von Politik und lassen sie nicht in ihre behütete Welt hineinregieren, bis es zu spät ist - wie es für viele Juden zu spät war, die weder ihren Feinden noch ihren Nachbarn das Ungeheuerliche zutrauten. Sie werden samt beider Söhne deportiert.

Es liegt in diesem in schönem Ton erzählten Roman eine Melancholie, die von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen rührt: dem Massenmord und der sich wie in einer Blase ereignenden Liebe, dem beharrlichen Alltag in London und dem Schweigen über die Zurückgelassenen in den besetzten Gebieten, Absurdität und Augenblicksglück.

Henriëtje, die im Roman zwar weniger Raum einnimmt als Frans, aber keineswegs blass erscheint, ist kaum eine Komplementärfigur zu ihrem Liebhaber, eher ein Spiegel. Sie nimmt sich - eben wie dieser dichtende Frauenheld - Freiheiten, die für die Zeit ungewöhnlich sind. Sie ist eine ganz modern Liebende, die ihre "Frauenrolle" wie in Anführungszeichen begreift. Es ist, als hätte Josepha Mendels sich nicht nur in ihrer weiblichen Hauptfigur selbst porträtiert, sondern auch in Frans Winter: eine Mischung aus Entschlossenheit und Sensibilität, Stärke und Verwegenheit. Das sind die Pole eines ungewöhnlichen Lebens - und dieses lesenswerten Romans.

© SZ vom 09.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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