Nach dem legendären niederländisch-flämischen Buchmessenschwerpunkt 1993 waren es Namen wie Harry Mulisch und Cees Nooteboom, die beim deutschen Publikum das Bild der niederländischen Nachkriegsliteratur bestimmten. Dabei fiel die Veranstaltung noch in die Lebenszeit von Willem Frederik Hermans (1921 -- 1995), der in seiner Heimat als viel bedeutender gilt, freilich auch als ungleich schwieriger.
Erst Jahre nach seinem Tod wurden größere Teile seines Œuvres ins Deutsche übersetzt, und zumindest bei der Kritik erregten Romane wie "Die Dunkelkammer des Damokles" und "Nie mehr schlafen" viel Bewunderung, durchmischt mit jener Irritation, die das misanthropische Weltbild des Autors und die Eiseskälte seiner Prosa schon bei seinen Landsleuten ausgelöst hatten. Von Erfahrungen der Kriegs- und Besatzungszeit tief geprägt, sah Hermans sich als Bewohner eines "sadistischen Universums", in dem alle zivilisatorischen Ordnungen die Herrschaft von Willkür und Zufall nur notdürftig verschleiern.
Doch der "epistemologische Nihilismus" des großen Romanciers und Essayisten (in geringerem Umfang auch Lyrikers und Dramatikers), den sein Kollege Cees Nooteboom als charmant-mondän beschrieb, hatte noch eine andere Seite: Als begnadeter Polemiker und gnadenloser Kritiker der niederländischen Kultur samt ihrer Selbstzufriedenheit konnte Hermans zu satirischer Hochform auflaufen. Sein Meisterstück in dieser Hinsicht ist das Epos "Unter Professoren" (1975), in dem er seine langjährigen Erfahrungen als Hochschullehrer für Geologie an der Universität Groningen verarbeitet hat.
Der linkische Chemieprofessor ist vom späten Ruhm des Nobelpreises überfordert
Tatsächlich wurde dieses Werk vor 30 Jahren schon einmal ins Deutsche gebracht, gewann aber bei uns keinen Blumentopf. Vielleicht stand die einschlägige Leserschaft damals zu sehr im Bann der Neuen Frankfurter Schule, um den Anspielungsreichtum eines niederländischen Schlüsselromans würdigen zu können, der sich nicht einmal die Mühe gibt, Erwartungen an einen Campusroman angelsächsischer Tradition zu erfüllen. Hermans, der das Buch im selbstgewählten Pariser "Exil" verfertigte, bediente prinzipiell keine Erwartungen. Vielmehr pflegte er Feindschaften, stichelte unermüdlich gegen Zeitgenossen und war als Verächter von Ehrungen und Preisen bekannt.
Um die höchste aller Auszeichnungen geht es in dem Roman, der nun in neuer Übersetzung abermals vorliegt. Roef Dingelam, Professor für technische Chemie an der wiedererkennbaren Alma Mater zu Groningen, wird in seinem Wochenendhaus von der Nachricht überrascht, er habe den Nobelpreis erhalten, und zwar für die Entdeckung einer Substanz mit unaussprechlicher Formel, ebenso verwendbar als Weißmacher im Waschpulver wie als Potenzmittel. Nicht nur fühlt sich der linkische Naturwissenschaftler im Rentenalter mit der späten Prominenz überfordert. Er wird überdies grausam mit den intellektuellen Grenzen seiner Gattin Gré konfrontiert, deren Reaktion auf die Freudenbotschaft sich in der Frage nach der Preissumme erschöpft, gipfelnd in der Feststellung: "Aber davon können wir doch nicht leben!"
Die Rache hat der Autor, stellvertretend für seinen Antihelden, schon in der Beschreibung der Dame vorweggenommen: "Sie trug eine blaugeblümte Schürze, rote Plüschpantoffeln an den Füßen und stachlige Plastiklockenwickler in den grauen Haaren. Die Form ihrer Brille erinnerte entfernt an einen Schmetterling. Sonst war an Gré nichts Schmetterlingshaftes. Wer hätte auch je einen Schmetterling von achtundfünfzig Jahren gesehen?" Hermans, das zeigt sich schon hier, war politisch so unkorrekt, wie man es in den Siebzigern nur sein konnte.
Hermans war politisch so unkorrekt, wie man es in den Siebzigern nur sein konnte
Davon lebt denn auch seine Schilderung des Universitätsmilieus, in dem Demokratisierung, Konsenszwang und Debattenwahn und grotesk-chaotischer Studenten-Aktionismus ("Mein Reagenzglas gehört mir!") sehr unterhaltsam kollidieren. Davon leben ebenso die eingeschobenen Tagebuchfragmente des Psychiaters Eddy Barend: "Zu mir kommen Patienten, zu denen ich nach bestem Wissen und Gewissen sagen könnte, dass ihre psychischen Probleme wie weggeblasen wären, wenn sie ihre Kinder aus dem Fenster werfen und ihre Frau erwürgen würden." Seine komfortable Existenz verdankt er der Tatsache, dass er solche Diagnosen für sich behält.
Barend wird am Ende seinem Schulfreund Dingelam eine Reise nach Paris und Monaco verordnen, um der Enge der Provinz zu entfliehen - und den Intrigen missgünstiger Kollegen nach Bekanntwerden der Nobelpreis-Sensation. Die Romanhandlung besteht überwiegend im genüsslichen Ausbreiten jener Machenschaften und Kommentare, und es soll nicht verhehlt werden, dass Hermans uns dabei Längen zumutet. Dann wieder gibt es skurrile Szenen wie die, in der die Professorenclique einen Sexclub aufsucht, weil beim Gastgeber die Getränke ausgegangen sind. Die niederländische Sparsamkeit wird unbarmherzig aufgespießt, genau wie Klatschsucht, Erbsenzählerei, Habgier und die "Große Sexuelle Befreiung", außerdem - sehr amüsant - gewisse Exzesse der Stadtverschönerung.
Hermans war kein Zyniker: Bei aller Schwärze seiner Weltsicht hat er die Trostbedürftigkeit des Individuums nicht vergessen. Seltsam rührende Züge trägt die Beziehung der kinderlosen Dingelams zu dem lebenden Hahn, den ihnen der Bauer vom Nachbarhof als Präsent zum Nobelpreis aufdrängt. Und am Ende, in Monte Carlo, scheint das Paar gar auf unbeholfene Weise wieder zueinanderzufinden.
Im Nachwort referiert ein fiktiver Professor Zomerplaag die Vorgänge, die zu Hermans' Weggang aus Groningen führten. Dass der Autor den gesamten Roman auf die Rückseiten überflüssiger Universitätsformulare gekritzelt hat, möchte man nur zu gern glauben. Dass man als Outsider nicht jedes Detail entschlüsseln kann, muss das Vergnügen nicht schmälern.