Niederländische Literatur:Atomarer Rummsknaller

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Harry Mulisch: Schwarzes Licht. Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens. Wagenbach Verlag, Berlin 2016. 144 Seiten, 9,90 Euro. E-Book 7,99 Euro. (Foto: verlag)

Der Wagenbach Verlag hat Harry Mulischs frühen Roman "Schwarzes Licht" neu übersetzen lassen. Er hat Bestand als eine beklemmende Momentaufnahme des Übergangs von der unmittelbaren Nachkriegszeit in den Kalten Krieg.

Von Tobias Lehmkuhl

Es ist der 20. August 1953 und Maurits Akelei hat Geburtstag. Vielleicht aber wird dieser Geburtstag auch sein allerletzter Tag sein, denn nicht nur seine Zimmerwirtin ist der Überzeugung, dass an diesem 20. August die Welt untergehen wird. Der Vorhersage der "Großen Pyramide" schenken auch die Leute Glauben, die auf dem Koningsplein stehen und entsprechende Schilder vor sich her tragen. Maurits Akelei allerdings beachtet sie nicht - zu beschäftigt ist er mit sich selbst, mit seinem 46. Geburtstag und damit, durch die Stadt zu laufen und den Arzt, den Pastor und seinen alten Freund Ketelaar zur Geburtstagsfeier in seiner rumpeligen Dachkammer einzuladen.

Es ist der 20. August 1953, und das Amsterdam in Harry Mulischs drittem Roman "Schwarzes Licht", den der Wagenbach Verlag dankenswerterweise neu hat übersetzen lassen, wirkt sehr kleinstädtisch. Hier und da zeigen sich noch Spuren des letzten Kriegs, ob es Besatzungssoldaten sind, die die Kirche, in der Maurits Akelei als Glockenspieler angestellt ist, besichtigen, oder ob es ein Bild seines Freundes Ketelaar im KZ Neuengamme ist, das im Kopf der Hauptfigur aufblitzt. Dabei ist der Kalte Krieg längst schon voll im Gange, und Fabrikbesitzer Ketelaar produziert fleißig Waffen für die Verbündeten: "Zwar nette Burschen, die Amerikaner, aber auch ein wenig dumme Burschen! Westliche Kultur und so. Unter ihrem Arm die Blaupausen für ein Panzerabwehrgeschütz - atomare Rummsknaller, aber hallo! Ich will jetzt nur noch eins: sehr schnell betrunken werden und dann ganz laut brüllen!"

Es ist der 20. August 1953 und genau dreiundzwanzig Jahre her, Hälfte des Lebens, dass Marjolein ertrank, das Mädchen, mit dem Maurits Akelei zusammen war, und es ist, als wäre für den Glockenspieler die Zeit seither stehen geblieben, als habe er nur still und ohne lautes Gebrüll in seiner Kammer vor sich hin gelebt, ein Trauerkontinuum, dass an diesem 20. August 1953 ein Ende finden wird. Zur zwölften Stunde bricht es aus ihm heraus: Die ganze Stadt schaut hinauf zum Turm, als nicht er, wie es heißt, sondern sein Körper, "ein einsamer Solist", etwas Unerhörtes, eine nie da gewesene Musik hervorbringt. Seine Zimmerwirtin wird darauf in Liebe zu ihm entbrennen und der Pastor entsetzt fragen: "Wozu hast du in Gottes Namen die Kirche benutzt?"

Die Welt geht an diesem 20. August 1953 natürlich nicht unter, aber sie verwandelt sich. Das Glockenspiel ist nur der Auftakt zu einer wahren Umwälzungsorgie: Nicht der Arzt, aber seine Frau, nicht nur der Pastor, sondern auch seine Tochter werden zur Geburtstagsfeier erscheinen, Ketelaar zudem mit einem Arm voller Schnapsflaschen. Schon bevor die erste geöffnet ist, schlüpft die Zunge der Arztfrau "wie der Kopf eines Aals" in den Mund Maurits Akeleis, dessen Namen auf die Gleichzeitigkeit von irdischer und himmlischer Liebe hinweist. Im Rausch dieser Nacht werden die beiden Sphären sich verkehren. Und so steht am Ende dieses grandiosen kleinen Romans das "Schwarze Licht": "Der Himmel hell und die Erde dunkel und voller sich bewegender Menschen, während das Afrika der Apokalypse über ihren Köpfen stattfindet."

© SZ vom 18.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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