Neuordnung der Dresdner Gemäldegalerie:Sinnlichkeit und Form

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Statuen stehen zwischen den Gemälden, Blickachsen bieten hintergründige Pointen: Die Dresdner Gemäldegalerie wird nach langem Umbau wiedereröffnet und ist in jeder Hinsicht ein Vergnügen.

Von Peter Richter

Nach sieben Jahren Renovierung und Umbau wird man ab Samstag wieder so feierlich und in Großbuchstaben "WILLKOMMEN" geheißen, wie es über der einen Tür steht, die von dem zentralen Oktogon in der Dresdner Gemäldegalerie abgeht. Und zwar - so steht es seit jeher über der gegenüberliegenden Tür - "IM HEILIGTHUME DER KUNST".

Das ab 1847 nach Plänen von Gottfried Semper erbaute und bis heute nach ihm benannte Galeriegebäude stammt nun einmal aus einer Zeit, in welcher der Umgang mit der Kunst deutlich mehr religiöse Emphase kannte als heute - und die deutsche Orthografie deutlich mehr Hs. In der Form, wie die Galerie jetzt wiedereingerichtet wurde, lässt sie nämlich sogar sehr an "Die Gemählde" denken, also an jenes fiktive Gespräch unter Kunstfreunden, das August Wilhelm Schlegel noch einmal ein halbes Jahrhundert früher in der Romantiker-Zeitschrift Athenäum veröffentlich hatte. Damals wurde die Gemäldesammlung der sächsischen Kurfürsten noch im Gebäude des Stallhofs aufbewahrt. Aber sie war die berühmteste des Landes und auch damals schon öffentlich zugänglich, und so gesehen ist es vielleicht kein Wunder, wenn hier Begriffe der Kunstkritik eingeübt wurden, die teilweise bis heute gängig sind. Jetzt erst kann man es allerdings auch in der Sempergalerie genauso halten wie die beiden kunstsinnigen Paare in Schlegels Lehrgespräch: von den Skulpturen der Antike - um nicht zu sagen: des Alterthums - zu den Gemälden der Neuzeit emporsteigen.

Die ehedem kaum weniger berühmte, dann aus Platzmangel lange wie weggeräumt wirkende Skulpturensammlung ist in ihren älteren Teilen vom Albertinum hierher umgezogen. Das ist die eigentlich entscheidende Neuerung, und ihr vorausgegangen war die Zusammenlegung der beiden zuvor eigenständigen Sammlungen unter die Verantwortung eines einzigen Direktors. Stephan Koja, der vor vier Jahren aus Wien kam, hat nun also alles, was vor der Romantik passiert ist, kurzerhand in die Gemäldegalerie der sogenannten Alten Meister inkorporiert.

Da die Harnische und Waffen aus der Rüstkammer ins wiederhergestellte Schloss zurückziehen konnten, war im Parterre Platz für einen opulenten Antikensaal. Und der Galeriedirektor weist bei einem ersten Rundgang zu Recht stolz auf das prachtvolle Licht hin, das von gleich beiden Seiten auf die Hüften all der marmornen Göttinnen und Satyrn fällt. Sie wirken wie befreit; es ist im Dresdner Spätwinter zwar noch nicht ganz die heimatliche Mittelmeersonne, aber immerhin.

Die offenen Fensterfronten zu beiden Seiten haben allerdings auch den Vorzug, die Antiken als solche wieder mit der Welt zu verknüpfen, in der sie jetzt ein paar Jahrhunderte lang ihre Wirkung getan haben: Zur einen Seite fällt der Blick über den Theaterplatz, wo König Johann auf seinem ehernen Ross sitzt wie die Reiterstatue auf dem römischen Kapitol, er fällt über Schinkels Wachhäuschen mit seinem antikisierenden Bauschmuck und dahinter auf die Heiligenstatuen auf dem Dach der Kathedrale, die sich schließlich auch nie so um die eigene Achse schrauben könnten ohne den Kontrapost der griechischen Kollegen zwei Jahrtausende zuvor.

Zur anderen Seite hin fällt der Blick in den Hof des Zwingers, den August der Starke als Lustbarkeitsgehege von einer Architektur hatte umfassen lassen, die man auch als einen durchfensterten Skulpturenreigen auffassen kann. Und schon bei dem Gedanken daran, dass Winckelmann in seinen Dresdner Jahren angeregt von exakt diesen Antiken hier drin und in Abneigung gegen exakt diesen frivolen Spätbarock da draußen das Programm des Klassizismus verfasst hat, möchte man eigentlich auf der Stelle Museumsführer oder Ästhetikprofessor werden, denn deren Arbeit macht sich bei solchen Blickbeziehungen fast schon von selbst.

Mit dieser Kontextualisierung in ihrer eigenen Wirkungsgeschichte erreicht Koja gewissermaßen einen ähnlichen Effekt wie sein Amtsvorgänger zur Zeit Schlegels, wenn der Sonderführungen bei Nacht anbot, damit im Schein der Fackeln die steinernen Figuren lebendiger wirkten. Dass die marmornen Figuren hier unten etwas Fahles und Totes hätten, jedenfalls im Vergleich zu den "Gemählden": das ist ja eines dieser bis heute fortwirkenden Verdikte genau dieser Generation von Romantikern, die bei Schlegel zur Sprache kommen.

Im sogenannten Paragone, dem alten Streit um den Vorrang von Skulptur oder Malerei, plädieren sie jedenfalls ziemlich entschieden zu Gunsten der Letzteren und halten sich auf der Ebene der Bildhauerei eigentlich nur zu dem rhetorischen Zweck länger auf, sich selbst allmählich "petrifiziert" zu fühlen, wenn sie nicht bald zu dem Leben emporsteigen, das die Maler den antiken Posen mit ihren Farben eingehaucht hatten. Da die Gemälde wie einst im Stallhof nun auch in der Belle Etage der Sempergalerie buchstäblich auf einem Geschoss voller Antiken ruhen, die ihnen ja auch in jedem anderen Sinne als Basis dienen, lässt sich dieser Schritt umstandslos nachvollziehen.

In dieser neuen Inszenierung eines alten Bildungserlebnisses nimmt man am besten eine neu eingebaute Nebentreppe, die vom Antikensaal direkt ins Herz der Renaissance führt, zu Botticelli und Mantegna, zu Lorenzo Costa und all den anderen. Dazwischen stehen Athleten aus der Antike und schauen lässig ihren Wiedergängern auf den Heiligenbildern beim stoischen Erdulden ihrer Martyrien zu.

Denn die zweite große Neuerung besteht darin, dass Skulptur auch zwischen den Gemälden selbst präsentiert wird. In einer dialektischen Volte führt das zu ihrer Wiederaufwertung. Nicht dass im Ernst noch jemand die Frage nach dem Vorrang stellen würde. Aber auf die Frage nach der Vorgängigkeit gibt diese Anordnung ein paar Antworten, die vorher zwar nicht unbekannt waren, aber trotzdem immer wieder schön sind. Denn dass Kunst, gerade wenn sie besonders lebensnah wirken will, oft besonders nah an anderer Kunst klebt: Das mag theoretisch keine Neuigkeit sein, aber es schadet nichts, es auch in der Praxis immer noch einmal so schlagend vor Augen gestellt zu bekommen. Selbst Tizian, dem Gott derer, die es eher mit dem sensualistischen Kolorit halten, stellen sie hier nun eine venezianische Reliefplastik neben das berühmte Gemälde mit dem "Gleichnis vom Zinsgroschen", um zu zeigen, dass der Teil daran, der am meisten Fleisch und Blut zu haben scheint, im Kern eigentlich am steinernsten ist.

Ein paar Räume weiter ist es dann geradezu so, als hätten sie Schlegels Figuren beim Wort genommen, wenn sie Andrea del Sartos "Abrahams Opfer" als den "Laokoon der Christenheit" bejubeln: Direkt davor steht nun tatsächlich ein kleiner Abguss der Laokoon-Gruppe, die seit ihrer Ausgrabung im Jahr 1506 so nachhaltig die Art und Weise verändert hat, wie Künstler das Ringen mit dem Schicksal darstellen sollten. Direkt daneben findet sich in Dresden jetzt ein "Mann mit Schlange" von Francesco di Giorgio Martini, der die Gruppe noch nicht gekannt hatte, aber möglicherweise auch einen Laokoon im Kampf um Leben und Tod darstellen wollte - allerdings so, dass man ihn oft auch für einen Äskulap gehalten hat, dem die Schlange nur allegorisches Beiwerk ist.

Es gibt daneben aber natürlich auch weiter den bisher üblichen Zugang über die Haupttreppe, der eben in das zentrale Oktogon führt, das leicht erhöht zwischen den beiden Galerieflügeln sitzt, als wäre es ein architektonisches Imitat eines Alpenkammes, auf dem man sich entscheiden muss, in welche Welt man hinabsteigen möchte: in die italienische mit ihren rostroten Wänden oder in die grüne der Niederländer. Frankreich und Spanien sind dazwischen in Seitenkabinetten untergebracht, beide in Blau, was einen Zusammenhang suggeriert, der allerdings nicht bestand. Aber irgendwo kommt die Abbildbarkeit der europäischen Verhältnisse auf einem Galeriegrundriss offenbar auch an ihre Grenzen. Dafür gehört die zweite Etage jetzt abgesehen von einer altdeutschen Ecke mit Dürer, Holbein, Cranach ganz dem 18. Jahrhundert, was immerhin stringent ist.

Was diese Neuhängung ausmacht, ist einerseits das Festhalten an der dichten "Dresdner Hängung" der Gemälde übereinander, andererseits die manchmal geradezu amüsante Kombination mit Skulpturen. Da steht ein Wildschwein bei den Niederländern und zeigt, wie verblüffend viele Eberköpfe auf den Gemälden auftauchen. Da steht ein Hercules Farnese und muss auf einem Gemälde von Rubens sein Spiegelbild als Volltrunkener betrachten. Und ganz hinten, an der triumphalen Stirnwand mit all den Rembrandts, steht jetzt ein heulendes Kinderporträt von Hendrick de Keyser, das Rembrandt Vorbild gewesen sein dürfte bei seinem in die Lüfte pinkelnden "Ganymed". Der hängt jetzt im Fluchtpunkt des Galerie, und über die lange Sichtachse zum anderen Ende hin antwortet dieses verängstigte Kind dem verängstigten Kind auf den Armen von Raffaels Sixtinischer Madonna: zwei Babys im Blickkontakt bilden praktisch die Klammer für alles andere.

Das Erheiternde solcher Inszenierungen mag nun wiederum eher quer stehen zur ehrfürchtigen Kunstandacht der Romantiker mit ihrer Verzückung über das "erhabne Daseyn". Dafür trifft es ganz gut den Geist, in dem die Sammlung wesentlich entstand. Biblisches Personal ist nämlich auffällig in der Minderheit gegenüber den außer Rand und Band geratenen Bacchanten und Satyrn, den lüsternen Frauen und den fremdgehenden Göttern, und im Zweifelsfall, Stichwort "Potiphars Weib", benimmt es sich ja auch nicht viel anders.

Jetzt muss erst einmal die auch bei Eröffnungsreden übliche Erhabenheitsrhetorik verklingen, auch alle anstehenden Kommentare zu den Alarmanlagen der zuletzt so gebeutelten Dresdner Kunstsammlungen müssen noch gemacht werden. Und dann kann sich endlich wieder zeigen, was dieses Heiligthum der Kunst bei all der Größe und der Anzahl seiner Hs eigentlich ist, nämlich ein großes und in jeder Hinsicht sinnenfrohes Vergnügen.

© SZ vom 27.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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