Neues Datapozän:Bitte recht freundlich bei den letzten Bildern der Menschheit

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Wir sammeln so viele Daten, um uns sicherer zu fühlen. Dabei werden wir in lauter Daten blind für gesellschaftliche Realitäten. Leider bemerken wir das immer noch nicht.

Von Adrian Lobe

Im Mai 2016 brach in der kanadischen Provinz Alberta ein verheerender Waldbrand aus. Als sich die Feuerwalze der Stadt Fort McMurray näherte, ordneten die Behörden eine Massenevakuierung an. 80 000 Menschen mussten ihre Häuser verlassen. Unter ihnen war auch James O'Reilly. Als er mit seinem Auto auf den verstopften Highway Richtung Norden aufbrach, poppte auf seinem Handy eine Benachrichtigung auf: Das Kamerasystem Canary, das er in seiner Wohnung installiert hatte, startete einen Livestream.

Auf den Bildern, die zuerst in die Cloud und später auf Youtube hochgeladen wurden, ist ein Wohnzimmer zu sehen. Ein Sofa, zwei Couchtische, ein Aquarium, ein Gemälde an der rot geschlemmten Wand. Wie aus dem Nichts bricht in dieses bürgerliche Setting eine nihilistische Gewalt. Am rechten Fenster wiegen sich bedrohlich ein paar Nadelbäume, am linken Fenster qualmt es, der weiße Rauch verdichtet sich rasch zu einer schwarzen Wolke. Flammen züngeln. Ein paar Sekunden hält das Fenster der Feuersbrunst statt, dann platzt die Glasscheibe. Man hört ein schrilles Klirren, berstende Baustoffe. Die Flammen lodern, Rauch steigt in die Wohnung, der Alarm geht los, ehe sich das Feuer in die Wohnung wälzt und das Bild total vernebelt. O'Reilly muss auf seinem Smartphone tatenlos zusehen, wie sein Haus, in dem er über 20 Jahre lang wohnte, binnen weniger Minuten zerstört wird.

Für den Künstler und Journalisten James Bridle ist dieser Clip die Ur-Szene eines neuen Zeitalters der Dunkelheit. In seinem neuen, bisher nur auf Englisch erschienenen Buch: "The New Dark Age" (Verso) schreibt er: "Unsere Sicht ist zunehmend universal, aber unser Handeln ist mehr denn je reduziert. Wir wissen mehr und mehr über die Welt, während wir immer weniger dazu in der Lage sind, etwas zu tun." Für Bridle ist dieses neue Zeitalter nicht Ausdruck eines Unwissens, einer vor-aufklärerischen Epoche wie im Mittelalter, sondern Ausdruck einer kollektiven Ohnmacht gegenüber maschinellen Systemen. Der Livestream des brennenden Hauses versinnbildlicht diese Hilflosigkeit. Man installiert Kameras, Warnsysteme und Feuermelder in seinen eigenen vier Wänden, die vor Gefahren warnen, doch in den entscheidenden Momenten vermag diese Technik rein gar nichts. Schlimmer noch: Sie pervertiert ihren Zweck, indem sie den Kontrollverlust in Bild und Ton festhält.

Für Bridle ist diese Szene nicht der Beleg eines Scheiterns von Überwachungstechnologien, sondern das Signum einer Unlesbarkeit der computerisierten Gesellschaft. "Die Überwachung und unsere Komplizenschaft", schreibt er, "ist eines der fundamentalsten Charakteristika des neuen Dark Age, weil es auf einer blinden Vision beruht: Alles ist beleuchtet, aber nichts wird gesehen."

Glaubt man Bridle, hängen Unwissen und Überwachung in einer fatalen Logik miteinander zusammen. Die automatisierte Erkenntnisproduktion basiere auf Formen von Überwachung, die Wahrheiten aus Datensätzen generiere. Wissen, so läuft Bridles Kausalkette weiter, werde reduziert auf das, was computerisiert begreifbar ist, und deshalb werde Wissen zu einer Form von Überwachung.

Je mehr die Menschen das Gefühl von Unwissenheit oder Ohnmacht haben, desto mehr Überwachungssysteme installieren sie und desto machtloser werden sie gegenüber der Technik. Die Maschinen dazu sind ein sich selbst verstärkendes System der Paranoia.

Belegbilder stellen für Diktatoren keine Bedrohung mehr dar. Jede Evidenz ist in Frage gestellt

Eigentlich sollte man meinen, dass mit datenanalytischen Prognosetechniken, dem Predictive Policing, und Frühwarnsystemen, mit denen Risiken und Zufälle minimiert werden sollen, mehr Sicherheit erzeugt wird. Doch das Gegenteil ist der Fall: Je mehr man über die Zukunft weiß, je mehr man die Unbekannten reduziert, desto unsicherer fühlt man sich. Das verweist auf eine der grundsätzlichsten Paradoxien des Digitalzeitalters: Je mehr man sieht, desto mehr sieht man seine eigene Handlungsunfähigkeit. Etwas abstrakter formuliert: Je höher man die mikroskopische Auflösung der Datenanalyse stellt, desto schärfer treten einzelne Datenpunkte hervor, die man vorher womöglich gar nicht gesehen hätte. Durch die Computervision werden die Ränder jedoch unscharf. Das Sehen wird rein technologisch.

Es gibt Phänomene, Auffälligkeiten, Regelmäßigkeiten, die nur durch bestimmte Musterkennungsverfahren sichtbar werden. Je mehr die digitale Gesellschaft auf algorithmische Systeme rekurriert, desto mehr verlässt sie sich auch auf maschinelle Heuristiken und desto blinder wird sie gegenüber gesellschaftlichen Realitäten. Denkt man die Theorie weiter, hätte auch jedes politische System blinde Flecken: Die Akteure übersähen zentrale Probleme der Gesellschaft. Die Zirkularität des Denkens, das wiederholte Einspeisen algorithmisch generierter Stichwörter in die Politmaschine, ist möglicherweise ein Symptom des digitalen Dark Age.

Man kann hier freilich auch eine simple Logik aufmachen: Hätte der Mann keine Kamera zu Hause installiert, hätte er auch nicht mit zusehen müssen, wie sein Haus vom Flammenmeer verschlungen wird. Nichtwissen wäre bestimmt weniger beunruhigend gewesen.

Doch es geht hier um eine grundsätzliche Frage: Mit welchem Sucher blickt man auf die Gesellschaft? Der ehemalige Google-Chef Eric Schmidt verstieg sich 2013 zu einer kühnen Gegenwartsdiagnose: "Es ist sehr, sehr schwer", behauptete er, "einen systemischen Schrecken im Zeitalter des Internets zu implementieren." Als Beispiel bemühte er den Genozid in Ruanda. Wenn damals jeder ein Smartphone dabei gehabt hätte, wäre der von Hutu-Milizen verübte Völkermord an 800 000 Tutsi nicht möglich gewesen.

Schon die Pläne, so Schmidt, wären "geleakt" worden. Man müsse also nur genügend Minicomputer mit integrierter Kamera in der Bevölkerung verteilen, um Transparenz zu schaffen und Gewaltexzesse zu verhindern. Das ist eine naive Annahme. In Syrien wurde der Schrecken wie selten zuvor in einem kriegerischen Konflikt dokumentiert. Und trotzdem ging das Morden zum Entsetzen der Weltöffentlichkeit weiter. Die Produktion von Bildern und Livestreams stellt für Diktatoren längst keine Bedrohung mehr dar, im Gegenteil, sie erweist sich als systemstabilisierend, weil Bilder mit Gegenbildern beantwortet werden und jede Evidenz in Frage gestellt ist.

Die Dokumentation von Ereignisströmem beweist lediglich unsere eigene Paralyse

Es gibt heute massenhaft Videomaterial aus Abermillionen Kameras: Dashcams, Smartphones, Tablets, Videokameras auf öffentlichen Plätzen und privaten Orten. Man sieht alles, und sieht doch wieder nichts. Allein auf Youtube werden pro Minute 400 Stunden Videomaterial hochgeladen. Die Sichtung dieses Materials wäre eine babylonische Aufgabe, selbst Algorithmen kommen in der Filterung, etwa von gewaltverherrlichenden Inhalten, kaum hinterher - wobei die Frage, wie man eine allgemein gültige Definition von Gewalt in Programmcode gießt, ohne dass darunter Actionfilme und Dokumentationen fallen, ja auch noch zu beantworten wäre.

Seit der NSA-Affäre hegen Privacy-Aktivisten die Hoffnung, dass durch den Big-Data-Overload - bis 2025 soll die Datensphäre auf das unvorstellbare Volumen von 163 Zettabyte anschwellen - die Daten so verrauscht sind, dass sich daraus keine Rückschlüsse auf einzelne Personen mehr ziehen lassen. Der Siegeszug der Überwachungskameras könnte, so paradox dies klingen mag, das größte Datenschutzprogramm der Geschichte sein, weil die entscheidenden Informationen in der Datenflut untergehen.

Der militärisch-industrielle Komplex demontiert sich in diesem Szenario selbst. Die Gefahr besteht aber, dass im Datapozän Maschinen eine neue Datentopographie über den Globus legen, deren Dimensionen nur noch mit algorithmischen Koordinatensystemen, also von und mit Maschinen, zu vermessen wären.

Für Bridle sind der kollabierende politische und wissenschaftliche Konsens, die Erosion des Vertrauens, die Platz greifende Paranoia, die sozialen Schismen allesamt Ausdruck des neuen Dark Age - einer Unfähigkeit zu denken und handeln. Vielleicht ist seine Sozialtheorie etwas zu großformatig geraten. Doch scheinen viele unserer Probleme - Klimawandel, Populismus, Nationalismus - kommunikativ begründet. Die Hybris der digitalen Gesellschaft besteht darin, zu glauben, durch Kameras eine totale Kontrolle zu erzeugen. Doch die Bilderflut mit ihren davon fliegenden und davon fliehenden Ereignisströmem dokumentieren lediglich die eigene Paralyse. Das letzte Bild der Menschheit wird ein Selfie oder Livestream sein.

© SZ vom 26.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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