Neuerscheinung:Aus dem Totenreich

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Sibylle Lewitscharoffs neuer Roman "Von oben" ist da am stärksten, wo seine Textur am zartesten ist.

Von Meike Fessmann

Irgendwo zwischen Himmel und Erde, recht nah noch am Boden, da schwebt er, der zappelnde Geist dieses Ich-Erzählers, immer wieder in Auflösung begriffen, dann wieder ganz da, aber völlig willenlos, getrieben wie ein Rauchwölkchen, das in der Luft hin und her geweht wird. Man hält beim Lesen den Atem an, während man zusieht, wie etwas Ungewöhnliches entsteht - einfach, zart, bescheiden, dringlich, leichtfüßig, demütig, wehmütig. Die Vokabeln, die sich einstellen, während man zu fassen versucht, was in diesem Roman geschieht, sind alles keine Begriffe, die man auf Anhieb mit Sibylle Lewitscharoff in Verbindung bringen würde. Die 1954 in Stuttgart geborene Schriftstellerin, mit nahezu allen bedeutenden Literaturpreisen der Republik ausgezeichnet, hat sich eine Zeit lang als wahrer Poltergeist betätigt. Wo immer es ging, plädierte sie für Streit, für Auseinandersetzung und für einen gern "alttestamentarisch" genannten Zorn. Auch die Literaturkritik bekam einen Tritt in den Hintern. Sie solle gefälligst schärfer werden, härter und klarer urteilen.

Nach ihrer "Dresdner Rede" wurde Lewitscharoff zur Persona non grata

Zusammen mit Martin Mosebach kultivierte sie den Stil als literarisches Hochamt, mitunter an der Grenze zum Manierismus. Katholisch der eine, schwäbisch-pietistisch geprägt die andere, brachten sie religiöse Begriffe ins Spiel, um eine Literatur, die allzu gemütlich im Realismus herumdümpelte, zu beflügeln. Während Brigitte Kronauer, die im Juli verstorbene größte Stilistin der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, ohne Sendungsbewusstsein auskam, wiegelt Sibylle Lewitscharoff gern auf. In ihrer "Dresdner Rede", die sie am 2. März 2014 zum Thema "Von der Machbarkeit. Die wissenschaftliche Bestimmung über Geburt und Tod" im Schauspielhaus hielt, gingen die rhetorischen Gäule mit ihr durch. Es war wohl ihr Pointierungswille, der sie dazu verführte, ausgerechnet an einer Stelle, an der ein Gedanke höchstens mit größter Vorsicht ausgedrückt werden darf, umso schärfer zu formulieren. Die mithilfe der Reproduktionsmedizin gezeugten Kinder nannte sie "Halbwesen", "zweifelhafte Geschöpfe". Ein Sturm der Entrüstung entbrannte, durchaus zu Recht, und blies sie aus dem Paradies der Hofierten. Es war ein gnadenloser Absturz von einer der gefragtesten Schriftstellerinnen, die Podien und Rednertribünen mit starken Positionen belebte, zu einer Persona non grata, von der sich sogar ihr Verlag distanzierte. Dass die Medien, die unsere Gegenwart prägen, eben doch keine himmlischen Sendboten sind, sondern exponentielle Verstärker von Effekten, die zugunsten oder zuungunsten eines Individuums ausschlagen können, hat Lewitscharoff am eigenen Leib erfahren.

Wozu das noch einmal aufwärmen? Um den Resonanzraum zu skizzieren, in dem sich dieser Roman entfaltet. Seine Fallhöhe steckt schon im Titel. "Von oben", das meint nicht nur den Blick des Erzählers, es umreißt auch seine Dislokation. Mit dem Erzähler hat es eine besondere Bewandtnis. Auch ein auktorialer Erzähler, also eine Erzählinstanz, die nicht in Erscheinung tritt, sondern allwissend über allem schwebt, kann bekanntlich "von oben" erzählen, man nennt das gern gottähnlich. Der Erzähler des Romans aber ist ein personaler Erzähler. Und er ist tot, erfahren wir gleich am Anfang. Dennoch spricht er in der ersten Person. Wie kann das sein? Sind da Hexenkünste am Werk, hat Gott die Hand im Spiel? Nun denn, dieser Tote kann das einfach. Er spricht, obwohl er keinen Körper mehr hat. Sibylle Lewitscharoff setzt, wie häufiger schon, auf ein Verfahren, das sie bei Franz Kafka gelernt hat und in einem klugen Essay über die unvollendete Erzählung "Der Bau" als dessen Geheimnis formuliert: "etwas Unmögliches oder nicht ganz Mögliches einfach zu behaupten, ohne Wenn und Aber. (...) Ein simpler, aber durchschlagend wirksamer Trick. (...) Es ist der feststellende Behauptungswille des Autors, der Franz Kafkas Texte durchglüht und sie so unwiderstehlich macht."

Die gewählte Perspektive ist in der Literatur ein Unterschied ums Ganze. Sie macht den Ton, die Magie eines Romans aus, die Art seiner Welterfassung, seine Stimmung, seine Drift. Dabei weiß der Erzähler nicht, wie ihm geschieht. Lange erinnert er sich nicht einmal an den eigenen Namen. Auch bei seinem Geschlecht ist er sich zunächst nicht ganz sicher, allmählich dämmert ihm aber doch, dass er Philosophie-Professor an der FU in Berlin gewesen sein muss. Und verheiratet war er auch, mit Marie, einer Anwältin, die vor nicht allzu langer Zeit an Krebs gestorben ist. Das weiß er nicht, wie es eine reale Person wüsste. Es weht ihn an und verschwindet auch wieder. Sein Bewusstsein stellt sich ein und verblasst. Er steigt, er sinkt, er fällt und löst sich auf. Er gerät hierhin und dorthin. So treibt es ihn quer durch Berlin, vor allem durch den Westen, nach Zehlendorf zum Schlachtensee und an die Rehwiese, in die Nassauische Straße in Wilmersdorf, wo er gewohnt hat, in die Niebuhr- und die Mommsenstraße in Charlottenburg, dort lebte er zu Studentenzeiten in einer WG. Gerhard, sein bester Freund, wohnt heute noch dort. Als er nachts einmal in dessen Zimmer blickt, bietet der Freund wahrlich keinen erbaulichen Anblick. Er ist auf dem Sofa eingeschlafen, die leere Rotweinflasche neben sich, der Bauch quillt aus dem offenen Hemd heraus, ein überfüllter Aschenbecher steht herum.

Wo es Literatur gebe, lehrte sie, da gebe es auch einen Wahn und viele Versuche, damit zurechtzukommen: Sibylle Lewitscharoff (1954-2023). (Foto: Holger John/imago/VIADATA)

Offenbar wird der Erzähler oder das, was von ihm übrig ist, von den Dingen und Ereignissen angezogen, auch von solchen, die scheinbar nichts mit ihm zu tun haben. So hört er nicht nur mit an, wie ein paar Freunde in einer seiner Stammkneipen über seine "Besserwisserei" lästern. Er wird auch Zeuge, wie eine junge Frau vom Dach in den Tod springt. Eine Krähe hat sie dabei beobachtet, vielleicht sogar angefeuert. Nach dem Sprung umkreist sie die Tote auf dem Boden. In der Wilmersdorfer Landhausstraße legt sich ein Mann auf die Fahrbahn, mehrere Menschen bemühen sich um seine Rettung.

Die meisten Exkursionen geschehen nachts. Manchmal ist Gewalt und sehr oft sind Tiere im Spiel. Einmal streift ihn ein Uhu und verschwindet schneller, als ihm lieb ist. Denn dieser Erzähler ist nicht einfach nur tot. Er ist einsam. Seine Einsamkeit ist abgrundtief, und sie ist das, was er am häufigsten bekundet. Nicht gesehen zu werden, nicht gehört zu werden, nicht eingreifen zu können, wo die Situation danach verlangt, das ist die Strafe, die der Tod für ihn bereithält. Hat er Schuld auf sich geladen? Er weiß es nicht. Aber er würde es jederzeit bekennen, wenn es ihn aus der Isolation befreien könnte. "Geschwätz", könnte es gewesen sein, "Klatschsucht" oder die "Dämonen des Ehrgeizes und der Selbstsucht". "Von oben" ist auch ein Roman über den sozialen Tod.

Von "Consummatus" über "Apostoloff" und "Blumenberg" bis hin zu ihrem 2016 erschienenen Dante-Roman "Das Pfingstwunder" ist der Tod als Stachel der Dramaturgie eine Konstante ihres Werks. Der Vater der Schriftstellerin, ein aus Bulgarien stammender Stuttgarter Gynäkologe, hat sich erhängt, als sie elf war. Im selben Jahr verstarb die über alles geliebte schwäbische Großmutter. Der Wunsch, mit Toten Kontakt aufzunehmen, irgendwie einen Transfer zwischen Diesseits und Jenseits hinzubekommen, gehört zur lebenslang geübten Gedanken-, Zeichen- und Schreibakrobatik. Doch dieses Mal ist der Ton nicht triumphal. Er sagt nicht: Seht her, ich setze einen aus dem Totenreich zurückgekehrten Studienrat ins Café und lasse ihn mit seinen toten Heroen Zwiesprache halten; seht her, ich lasse zwei Schwestern die Urne ihres toten Vaters nach Bulgarien bringen und ihn und sein Herkunftsland beschimpfen; seht her, ich lege dem Philosophen Hans Blumenberg einen leibhaftigen Löwen auf den Buchara-Teppich, den keiner sieht außer ihm.

Sibylle Lewitscharoff: Von oben. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 240 Seiten, 24 Euro. (Foto: N/A)

In seinen besten Passagen ist dieser Roman von einer Zartheit und Demut, die ans Poetische rührt. Man erlebt das hautnahe Abenteuer, wie aus einem beinahe Nichts ein Etwas entsteht, das Wunder der Kunst, das uns an imaginäre Gebilde glauben lässt, obwohl wir wissen, dass ihnen nichts entspricht, was man Realität nennen kann. Es gibt hinreißend poetische Szenen. Etwa die Erinnerung an eine Ballonfahrt über die schneebedeckten Hügel Bayerns, ein Inbild der Levitation, des sanften Gleitens und der glücklichen Gemeinschaft: mit Gerhard, dem allerbesten Freund, und einer Handvoll anderer.

Eine dünne Membran trennt einsame Menschen von ihrer Umgebung

Selbst der zufällige Besuch Am Kupfergraben 6 in Mitte, wo der Erzähler auf die friedlich arbeitende Kanzlerin blickt, die sich in ihrer Küche für ein Treffen mit Emmanuel Macron vorbereitet, vermittelt einen Eindruck diskreter Poesie.

Überall dort, wo der fragile Schwebezustand des Bewusstseins nur eben gerade so viel zu fassen bekommt, dass sich die Bewegung zu einem Bild verdichtet, geht der Zauber des Romans auf. Er überstrahlt die Schwächen, die sich bemerkbar machen, wenn Sibylle Lewitscharoff das Bewusstsein ihres Erzählers mit Dingen unterfüttert, die zum kulturkritischen Standardrepertoire gehören, wie Fettsucht, mangelnde Erziehung, schlecht gekleidete Menschen, reimlose Lyrik. Auch wo sie tiefer in die Zeitgeschichte abtaucht und die philosophischen Grabenkämpfe der 1970er-Jahre beschreibt, wird es allzu vorhersehbar. Nach vielen Jahren ist "Von oben" der erste Roman, der die Stimmung von "Pong" aufnimmt, der Spiel- und Spiegelfigur, für deren erste Ausprägung Sibylle Lewitscharoff 1998 den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt.

Es ist eine Poetik der einfachen Sätze, die mit den Phantasmen der Moderne und der Technik spielt, der Sehnsucht nach Flügen zum Mond, gleichermaßen melancholisch wie tröstlich. Zweimal griff sie die Fantasiegestalt wieder auf, zuletzt 2017, in "Pong am Ereignishorizont", illustriert mit Zeichnungen und Lithografien von Friedrich Meckseper, ihrem Mann. Er ist im Juni gestorben.

"Von oben" umschreibt mit feinen Strichen die dünne Membran, die einsame Menschen von ihrer Umgebung trennt. Liebe, Krankheit, Tod, Verrat, das sind die großen Themen der Literatur, die sie in unterschiedlichsten Stoffen durchspielen kann. "Von oben" ist aus Lebensstoff gewebt, nicht überall hat der Roman die gleiche Textur, doch gerade dort, wo er am zartesten ist, liegt seine große Stärke.

© SZ vom 01.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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