Seit Atlanta schaute sie mit einer fast körperlichen Freude aus dem Speisewagenfenster. Beim Frühstückskaffee sah sie die letzten Berge Georgias schwinden und die rote Erde auftauchen und mit ihr wellblechgedeckte Häuser und die für den Süden typischen gefegten Vorplätze, auf denen die unvermeidlichen Verbenen in weiß gestrichenen Autoreifen wuchsen. Sie grinste, als sie die erste Fernsehantenne auf einem ungestrichenen Negerhaus* entdeckte; je mehr es wurden, desto froher wurde ihr ums Herz.
Jean Louise Finch machte diese alljährliche Heimreise sonst immer mit dem Flugzeug, doch diesmal, im fünften Jahr, hatte sie beschlossen, von New York nach Maycomb Junction mit dem Zug zu fahren. Zum einen, weil sie bei ihrem letzten Flug Todesängste ausgestanden hatte, da der Pilot sich bemüßigt fühlte, mitten durch einen Tornado zu fliegen. Zum anderen, weil ihr Vater, wenn sie mit dem Flugzeug anreiste, um drei Uhr morgens aufstehen musste, die hundertsechzig Kilometer nach Mobile fahren, um sie dort abzuholen, bevor er dann anschließend noch einen ganzen Tag arbeiten musste. Er war jetzt zweiundsiebzig, und das war ihm nicht mehr zuzumuten.
Sie war froh, dass sie sich für den Zug entschieden hatte. Züge hatten sich seit ihrer Kindheit verändert, die neuartige Erfahrung machte ihr Spaß: Wenn sie einen Knopf an der Wand drückte, erschien wie ein Flaschengeist ein dicker Schaffner; ein Edelstahlwaschbecken klappte auf ihren Befehl hin aus einer anderen Wand, und es gab ein Klo, auf das man die Füße legen konnte. Sie beschloss, sich durch etliche Hinweisschilder in ihrem Schlafwagenabteil - einer Einzelkabine - nicht einschüchtern zu lassen, doch als sie am Abend zuvor ins Bett gegangen war, hatte sie die Aufforderung HEBEL IN HALTERUNG EINRASTEN LASSEN ignoriert, was dazu führte, dass sie prompt samt Bett gegen die Wand klappte und der Schaffner sie aus ihrer misslichen Lage befreien musste - was doppelt peinlich war, da sie die Angewohnheit hatte, nur mit einem Pyjamaoberteil bekleidet zu schlafen.
Zum Glück patrouillierte er gerade durch den Gang, als die Falle mit ihr drin zuschlug: "Ich hol Sie raus, Miss", rief er, als sie sich mit lautem Klopfen bemerkbar machte. "Nein, bitte", sagte sie. "Erklären Sie mir einfach, wie ich hier wieder rauskomme." - "Ich kann das, ohne hinzusehen", sagte er und tat es dann auch.
Als sie am Morgen aufwachte, rangierte der Zug gerade ruckelnd im Bahnhof von Atlanta, doch sie befolgte ein weiteres Hinweisschild und blieb im Bett, bis College Park vorbeisauste. Dann zog sie ihre Maycomb-Kleidung an: graue Hose, schwarze ärmellose Bluse, weiße Socken und Slipper. Obwohl es noch vier Stunden bis Maycomb waren, konnte sie schon das geräuschvolle Naserümpfen ihrer Tante hören.
Sie war gerade bei ihrer vierten Tasse Kaffee, als der Crescent Limited mit lautem Tröten wie eine Riesengans seinen Richtung Norden fahrenden Kollegen begrüßte und über den Chattahoochee nach Alabama hinüberrumpelte.
Der Chattahoochee war breit, flach und schlammig, und heute sehr niedrig; eine gelbe Sandbank hatte aus dem Fluss ein Rinnsal gemacht. Vielleicht singt er ja im Winter, dachte sie: Ich hab keine einzige Zeile aus dem Gedicht von Sidney Lanier behalten. Als ich pfiff in wilden Tälern? Nein, das war was anderes. Ging's um Wasserfälle oder Wasservögel?
Sie unterdrückte streng den Drang loszukichern, als sie darüber nachdachte, dass Sidney Lanier ihrem längst verschiedenen Cousin Joshua Singleton St. Clair sehr ähnlich gewesen sein musste, dessen eigene lyrische Ergüsse den Leser von Alabamas Baumwollgürtel bis nach Bayou La Batre führten. Jean Louises Tante pries Cousin Joshua ihr gegenüber oft als ein Familienvorbild, das nicht achtlos belächelt werden dürfe: Er war ein stattliches Mannsbild, er war ein Dichter, er war in der Blüte seiner Jahre aus dem Leben gerissen worden, und Jean Louise tue gut daran, nicht zu vergessen, dass es eine Auszeichnung sei, mit ihm verwandt zu sein. Die Bilder von ihm machten der Familie alle Ehre - Cousin Joshua sah aus wie ein verlotterter Algernon Swinburne.
Jean Louise lächelte in sich hinein, als sie daran dachte, wie ihr Vater ihr den Rest der Geschichte erzählt hatte. Cousin Joshua war aus dem Leben gerissen worden, das ja, aber nicht von der Hand Gottes, sondern vom Arm des Gesetzes: Als Cousin Joshua auf der Universität war, studierte er zu fleißig und dachte zu viel nach. Tatsächlich sah er sich als einen Menschen des 19. Jahrhunderts. Er trug gern einen Havelock und Schaftstiefel, die er nach seinem eigenen Entwurf von einem Schmied anfertigen ließ. Cousin Joshua wurde von der Obrigkeit am Fortkommen gehindert, als er auf den Präsidenten der Universität schoss, der seiner Meinung nach nicht viel mehr als ein besserer Jauchefahrer war. Das traf zweifellos zu, war jedoch eine unzureichende Entschuldigung für den Angriff mit einer tödlichen Waffe. Nachdem viel Geld die Hände gewechselt hatte, besserte sich seine Lage, und Cousin Joshua wurde in einer Einrichtung für Unzurechnungsfähige untergebracht, wo er für den Rest seines Lebens blieb. Angeblich verhielt er sich stets ganz vernünftig, bis jemand den Namen jenes Universitätspräsidenten fallen ließ: Dann verzerrten sich seine Gesichtszüge, er hob ein Bein und blieb wie ein Schreikranich acht Stunden oder länger so stehen, und nichts und niemand konnte ihn dazu bringen, sein Bein wieder zu senken, bis er den Mann irgendwann vergaß. Wenn er bei klarem Verstand war, las Cousin Joshua griechische Klassiker, und er hinterließ ein schmales Gedichtbändchen, das im Selbstverlag von einer Firma in Tuscaloosa gedruckt wurde. Die Lyrik war ihrer Zeit so weit voraus, dass niemand sie bisher enträtselt hatte, doch bei Jean Louises Tante lag das Büchlein stets rein zufällig, aber gut sichtbar auf einem Tisch im Wohnzimmer.
Jean Louise lachte laut auf, blickte sich dann um, ob jemand sie gehört hatte. Ihr Vater verstand es vortrefflich, die Vorträge seiner Schwester über die angeborene Überlegenheit jedes beliebigen Mitglieds der Familie Finch zu konterkarieren: Er erzählte seiner Tochter stets den Rest der Geschichte, leise und ernst, doch manchmal meinte Jean Louise, ein unverkennbar lästerliches Glimmen in Atticus Finchs Augen zu entdecken, oder war es bloß das Licht, das sich in seiner Brille spiegelte? Sie wusste es nie so genau.
Die Landschaft zog jetzt sanft schaukelnd dahin, und Jean Louise sah vom Fenster bis zum Horizont nichts als Weideland und schwarze Rinder. Sie fragte sich, wieso sie ihre Heimat nie schön gefunden hatte.
Der Bahnhof in Montgomery schmiegte sich in einen Ellbogen des Alabama River, und als sie aus dem Zug stieg, um sich die Beine zu vertreten, war es plötzlich wieder da, das Vertraute mit seiner Eintönigkeit, seinen Lichtern und seltsamen Gerüchen. Aber irgendwas fehlt, dachte sie. Heißläufer, ja genau. Ein Mann geht mit einem Brecheisen am Zug entlang und überprüft die Achslager. Es scheppert, und dann macht es s-sss-sss, weißer Rauch steigt auf, und man meint, man ist in einem Kochkessel. Die Dinger laufen inzwischen mit Diesel.
Aus unerfindlichen Gründen überkam sie eine alte Furcht. Sie war seit zwanzig Jahren nicht mehr in diesem Bahnhof gewesen, und wenn sie als Kind mit Atticus in die Hauptstadt gefahren war, hatte sie panische Angst gehabt, der schwankende Zug könnte in den Fluss stürzen, und sie würden alle ertrinken. Aber als sie wieder in ihrem Abteil saß, dachte sie nicht mehr daran.
Der Zug ratterte durch Kiefernwälder und stieß einen belustigten Pfiff aus, als er ein fröhlich bemaltes, trichterförmiges Museumsstück von Lokomotive passierte, das ausrangiert auf einer Lichtung stand. Es trug das Firmenzeichen eines Holzunternehmens, und der Crescent Limited hätte es komplett verschlucken können und dann noch Platz gehabt. Greenville, Evergreen, Maycomb Junction.
Sie hatte dem Lokführer gesagt, er solle bloß nicht vergessen, sie aussteigen zu lassen, und da der Lokführer ein älterer Mann war, war sie schon auf seinen Scherz gefasst: Er würde an Maycomb Junction vorbeirauschen und den Zug einen halben Kilometer hinter dem kleinen Bahnhof stoppen, und dann, wenn er sich von ihr verabschiedete, würde er sagen, es tue ihm leid, er habe es fast vergessen. Züge veränderten sich, Lokführer nie. Sich bei einem Wunschhalt mit jungen Ladys einen Scherz zu erlauben war ein Markenzeichen des Berufs, und Atticus, der die Eigenheiten jedes Lokführers von New Orleans bis Cincinnati aus dem Effeff kannte, würde folglich keine sechs Schritte von der Stelle entfernt warten, an der sie ausstieg.
Maycomb County, ein Bezirk von gut hundert Kilometern Länge und maximal fünfzig Kilometern Breite, war eine Wildnis mit kleinen verstreuten Siedlungen, deren größte Maycomb war, der Verwaltungssitz. Noch bis vor gar nicht so langer Zeit war Maycomb County so vom Rest der Nation abgeschnitten gewesen, dass einige seiner Einwohner in Unkenntnis der politischen Vorlieben, die sich während der vergangenen neunzig Jahre im Süden durchgesetzt hatten, nach wie vor die Republikaner wählten. Züge fuhren keine dorthin - Maycomb Junction, ein Höflichkeitstitel, lag in Abbott County, dreißig Kilometer weit weg. Busse verkehrten unregelmäßig, und keiner wusste genau, wohin sie fuhren, aber die Bundesregierung hatte ein paar Highways durch die Sümpfe treiben lassen, was den Einwohnern Gelegenheit zur ungehinderten Ausreise bot. Doch nur wenige Leute nutzten diese Straßen, und warum sollten sie auch? Wenn man nicht viel brauchte, war alles reichlich vorhanden.
Das County und die Stadt waren nach einem Colonel Mason Maycomb benannt, einem Mann, dessen unangebrachtes Selbstvertrauen und übersteigerter Eigensinn für Verwirrung und Ratlosigkeit bei all denen gesorgt hatten, die mit ihm in den Kampf gegen die Creek-Indianer zogen. Das Gebiet, in dem er operierte, war im Norden leicht hügelig und im Süden, am Rande der Küstenebene, flach. Colonel Maycomb war überzeugt, dass Indianer nur ungern im Flachland kämpften, und suchte die nördlichen Bereiche des Gebiets nach ihnen ab. Als sein General erfuhr, dass Maycomb die Hügel durchkämmte, während die Creeks hinter jedem Kieferndickicht im Süden auf der Lauer lagen, sandte er einen befreundeten indianischen Läufer zu Maycomb mit der Botschaft: Ziehen Sie nach Süden, verdammt. Maycomb jedoch vermutete eine List der Creek, um ihn in die Falle zu locken (wurden sie nicht von einem blauäugigen, rothaarigen Teufel angeführt?), nahm den befreundeten indianischen Läufer gefangen und zog unverdrossen weiter gen Norden, bis seine Truppen sich hoffnungslos im Urwald verirrten, wo sie den Krieg in beträchtlicher Verwirrung aussaßen.
Nachdem genug Jahre vergangen waren, um Colonel Maycomb zu der Überzeugung zu bringen, dass die Botschaft doch echt gewesen war, zog er mit seinen Truppen zielstrebig nach Süden und begegnete unterwegs Siedlern, die auf dem Weg ins Landesinnere waren und ihm erzählten, dass die Indianerkriege praktisch vorbei waren. Die Soldaten und die Siedler verstanden sich so gut, dass sie Jean Louise Finchs Vorfahren wurden, und Colonel Maycomb zog weiter bis ins heutige Mobile, um dafür zu sorgen, dass seinen Heldentaten die gebührende Anerkennung zuteil wurde. Die offizielle Geschichtsschreibung stimmte nicht mit der Wahrheit überein, doch das sind die Fakten, denn sie wurden im Laufe der Jahre mündlich überliefert, und in Maycomb kannte sie jeder.
". . . holen Sie Ihr Gepäck, Miss", sagte der Schaffner. Jean Louise folgte ihm vom Salonwagen zu ihrem Abteil. Sie nahm zwei Dollar aus ihrem Portemonnaie: einen für seine regulären Dienste und einen, weil er sie vergangene Nacht befreit hatte. Der Zug rauschte natürlich am Bahnhof vorbei und kam gut vierhundert Schritte dahinter zum Stehen. Der Lokführer tauchte grinsend auf und sagte, es tue ihm leid, er habe es fast vergessen. Jean Louise grinste zurück und wartete ungeduldig, bis der Schaffner die gelbe Trittstufe aufgestellt hatte. Er half ihr nach unten, und sie gab ihm die zwei Scheine.
Ihr Vater wartete nicht auf sie.
Sie schaute die Schienen entlang Richtung Bahnhof und sah einen großen Mann auf dem kleinen Bahnsteig stehen. Er sprang herunter und kam zu ihr gelaufen.
Er umarmte sie stürmisch, schob sie von sich weg, küsste sie erst fest, dann zärtlich auf den Mund. "Nicht hier, Hank", murmelte sie lächelnd.
"Still, Mädchen", sagte er und hielt ihr Gesicht fest. "Ich küsse dich sogar auf den Stufen vor dem Gericht, wenn ich will."
Der Besitzer des Anrechts, sie auf den Stufen vor dem Gericht zu küssen, war Henry Clinton, lebenslanger Freund, Kamerad ihres Bruders, und, falls er sie weiter so küsste, irgendwann ihr Ehemann. "Liebe, wen du willst, aber heirate deinesgleichen" war ein Gebot, das sie verinnerlicht hatte. Für Jean Louise war Henry Clinton ihresgleichen, und im Moment fand sie das Gebot nicht sonderlich schwer zu befolgen.
Sie gingen Arm in Arm am Gleis entlang, um ihren Koffer zu holen. "Wie geht's Atticus?", fragte sie.
"Seine Hände und Schultern machen ihm heute zu schaffen."
"Deswegen kann er nicht Auto fahren, was?"
Henry krümmte die Finger der rechten Hand bis zur Hälfte und sagte: "Weiter kann er sie nicht schließen. Dann muss Miss Alexandra ihm die Schuhe zubinden und die Hemden zuknöpfen. Er kann nicht mal einen Rasierer halten."
Jean Louise schüttelte den Kopf. Sie war zu alt, um gegen diese Ungerechtigkeit zu wettern, aber zu jung, um sich widerstandslos mit der lähmenden Krankheit ihres Vaters abzufinden. "Kann man denn gar nichts dagegen machen?"
"Nein, das weißt du doch", sagte Henry. "Er nimmt Aspirin, Unmengen davon, aber das ist alles."
Henry griff nach ihrem schweren Koffer, und sie gingen zum Wagen. Sie fragte sich, wie sie sich wohl verhalten würde, wenn sie tagtäglich Schmerzen hätte. Wohl kaum wie Atticus: Wenn du ihn fragtest, wie es ihm ging, sagte er es dir, aber er beklagte sich nie; anmerken ließ er sich nichts, also musstest du ihn schon fragen, wenn du herausfinden wolltest, wie er sich fühlte.
Henry hatte es nur durch Zufall erfahren. Eines Tages waren sie zusammen wegen eines Grundbucheintrags im Aktenarchiv des Gerichts gewesen, und als Atticus ein schweres Hypothekenverzeichnis aus dem Regal hob, wurde er kalkweiß und ließ es fallen. "Was ist denn?", hatte Henry gefragt. "Gelenkrheumatismus. Kannst du das bitte für mich aufheben?", sagte Atticus. Henry fragte, wie lange er das schon habe. Atticus antwortete, seit sechs Monaten. Wusste Jean Louise Bescheid? Nein. Dann sollte man es ihr lieber sagen. "Dann kommt sie her, um mich zu pflegen. Das einzige Gegenmittel ist, sich nicht davon besiegen zu lassen." Das Thema war beendet.
"Willst du fahren?", fragte Henry.
"Sei nicht albern", sagte sie. Sie handhabte nur äußerst ungern alles Mechanische, das komplizierter war als eine Sicherheitsnadel: Liegestühle aufzuklappen war für sie ein Anlass großer Verärgerung; sie hatte nie Fahrradfahren oder Maschineschreiben gelernt; sie angelte mit einem Stock. Ihr Lieblingsspiel war Golf, weil dazu im Wesentlichen nichts weiter erforderlich war als ein Schläger, ein Ball und ein Bewusstseinszustand.
Grün vor Neid beobachtete sie, wie mühelos Henry das Automobil beherrschte. Autos sind ihm untertan, dachte sie. "Servolenkung? Automatikgetriebe?", fragte sie.
"Und ob", sagte er.
"Und was machst du, wenn mal alles ausfällt und du keinen Schaltknüppel hast? Dann steckst du in der Klemme, oder?"
"Aber es wird nicht alles ausfallen."
"Woher willst du das wissen?"
"So was nennt man Vertrauen. Komm her."
Vertrauen in General Motors. Sie legte den Kopf auf seine Schulter.
"Hank", sagte sie kurz darauf. "Was ist wirklich passiert?"
Das war ein alter Witz zwischen ihnen. Eine rosa Narbe begann unter seinem rechten Auge, streifte den Nasenwinkel und zog sich quer über seine Oberlippe. Hinter der Lippe waren sechs falsche Vorderzähne, und nicht mal Jean Louise konnte ihn dazu bringen, sie herauszunehmen und ihr zu zeigen. Er war damit aus dem Krieg zurückgekommen. Ein Deutscher hatte ihm mit einem Gewehrkolben ins Gesicht geschlagen, wohl vor allem, um seinem Unmut über das Ende des Krieges Ausdruck zu geben. Jean Louise hatte beschlossen, die Geschichte für plausibel zu halten: Bei den ganzen Geschützen, die weiter als der Horizont schossen, B-17-, V-Bomber und dergleichen, war Henry wahrscheinlich nicht mal auch nur in die Nähe der Deutschen gekommen.
"Okay, Schatz", sagte er. "Wir waren in einem Keller in Berlin. Alle hatten zu viel getrunken, und es kam zu einer Schlägerei - du hast doch gern, wenn es sich glaubhaft anhört, nicht? Also, heiratest du mich jetzt?"
"Noch nicht."
"Wieso?"
"Ich möchte es wie Dr. Schweitzer machen und spielen, bis ich dreißig bin."
"Das sind ja tolle Ambitionen"", sagte Henry grimmig.
Jean Louise bewegte sich unter seinem Arm. "Du weißt, wie ich das meine", sagte sie.
"Ja."
Es gab keinen besseren jungen Mann als Henry Clinton, sagten die Leute in Maycomb. Jean Louise war auch dieser Meinung. Henry stammte vom südlichen Ende des County. Sein Vater hatte Henrys Mutter kurz nach dessen Geburt verlassen, und sie hatte tagaus, tagein in ihrem kleinen Gemischtwarenladen geschuftet, um Henry auf die öffentliche Schule von Maycomb schicken zu können. Seit Henry zwölf Jahre alt war, wohnte er in einem Zimmer im Haus gegenüber dem der Finchs zur Miete, und das allein stellte ihn schon auf eine höhere Ebene: Er war sein eigener Herr, musste nicht unter den gestrengen Augen von Köchinnen, Gärtnern und Eltern leben. Er war außerdem vier Jahre älter als sie, was damals viel ausmachte. Er ärgerte sie; sie himmelte ihn an. Als er vierzehn war, starb seine Mutter und hinterließ ihm so gut wie nichts. Atticus Finch verwaltete das bisschen Geld, das der Verkauf des Ladens einbrachte - das meiste ging für die Beerdigung drauf -, besserte die Summe heimlich aus eigener Tasche auf und verschaffte Henry einen Job neben der Schule im Lebensmittelmarkt Jitney Jungle. Henry machte seinen Abschluss und ging zur Army, und nach dem Krieg ging er auf die Universität und studierte Jura.
Etwa zu der Zeit fiel Jean Louises Bruder eines Tages auf der Stelle tot um, und nachdem dieser Albtraum vorbei war, begann Atticus, der immer gedacht hatte, er würde die Kanzlei mal seinem Sohn überlassen, sich nach einem anderen jungen Mann umzusehen. Es lag nahe, dass er Henry einstellte, und im Laufe der Zeit wurde Henry für Atticus in jeder Hinsicht unentbehrlich. Henry hatte schon immer zu Atticus Finch aufgeschaut. Bald wurde aus Respekt tiefe Zuneigung und Atticus für ihn wie ein Vater.
Er betrachtete Jean Louise nicht als Schwester. In den Jahren, die er fort war, im Krieg und an der Universität, hatte sie sich von einem Latzhosen tragenden, widerspenstigen, hitzköpfigen Kind in so etwas Ähnliches wie ein vernünftiges menschliches Wesen verwandelt. Er begann, mit ihr auszugehen, wenn sie jedes Jahr für zwei Wochen nach Hause kam, und obwohl sie sich noch immer wie ein dreizehnjähriger Junge bewegte und kaum Interesse für weibliche Verschönerungsversuche aufbrachte, entdeckte er an ihr etwas so ungemein Feminines, dass er sich in sie verliebte. Sie war nett anzuschauen und meistens auch nett im Umgang, aber sie war alles andere als ein einfacher Mensch. Sie war mit einem ruhelosen Geist geschlagen, den er nicht einschätzen konnte, dennoch wusste er, dass sie die Richtige für ihn war. Er würde sie beschützen, er würde sie heiraten.
"Hast du New York satt?", fragte er.
"Nein."
"Lass mir diese zwei Wochen freie Hand, und ich sorge dafür, dass du die Stadt satthast."
"Hast du unanständige Absichten?"
"Ja."
"Dann fahr zur Hölle."
Henry stoppte den Wagen. Er schaltete die Zündung aus, drehte sich um und sah sie an. Sie wusste, wann er ernst wurde: Seine kurz geschorenen Haare sträubten sich dann wie eine wütende Bürste, sein Gesicht wurde dunkel, seine Narbe lief rot an.
"Schatz, soll ich es wie ein Gentleman ausdrücken? Miss Jean Louise, ich habe mittlerweile einen Einkommensstandard erreicht, der es mir ermöglicht, zwei Menschen zu ernähren. Ich habe, wie der biblische Israel, sieben Jahre in den Weingärten der Universität und auf den Weiden der Kanzlei deines Daddys geschuftet, damit du - "
"Ich sag Atticus, er soll noch sieben dranhängen."
"Gemein."
"Außerdem", sagte sie, "es war übrigens Jakob. Nein, die waren ein und derselbe. Die haben alle drei Verse die Namen geändert. Wie geht's Tantchen?"
"Du weißt genau, dass es ihr seit dreißig Jahren gut geht. Versuch nicht, das Thema zu wechseln."
Jean Louises Augenbrauen zuckten. "Henry", sagte sie spröde, "ich könnte eine Affäre mit dir haben, aber ich werde dich nicht heiraten."
Das stimmte haargenau.
"Sei doch nicht so verdammt kindisch, Jean Louise!", platzte Henry heraus und vergaß, worauf General Motors neuerdings verzichtete, griff nach einem Schaltknüppel und trat nach einer Kupplung. Da beides nicht vorhanden war, drehte er brachial den Zündschlüssel, drückte ein paar Knöpfe, und der große Wagen glitt gemächlich und sanft den Highway entlang.
"Schlechte Beschleunigung, was?", sagte sie. "Taugt nichts für die Stadt."
Henry blickte sie zornig an. "Was willst du damit sagen?"
Jeden Moment würden sie in einen Streit geraten. Er meinte es ernst. Sie sollte ihn lieber wütend machen, damit er schwieg und sie darüber nachdenken konnte.
"Wo hast du die scheußliche Krawatte her?", fragte sie.
Volltreffer.
Sie war fast in ihn verliebt. Nein, das ist unmöglich, dachte sie. Entweder du bist verliebt, oder du bist es nicht. Liebe ist das Einzige auf dieser Welt, das unzweideutig ist. Es gibt unterschiedliche Arten von Liebe, gewiss, aber bei allen gilt die Wahl zwischen "Du liebst" oder "Du liebst nicht".
Sie war ein Mensch, der es sich nie leicht machte. Es wäre so leicht gewesen, Hank zu heiraten und ihn für sie schuften zu lassen. Nach ein paar Jahren, wenn die Kinder hüfthoch wären, würde der Mann auftauchen, den sie von vornherein hätte heiraten sollen. Die Folge wären Herzensprüfungen, Kummer und Gram, lange Blicke auf den Stufen des Postamts und Unglück für alle Beteiligten. Hatten die Schreierei und Moralisiererei dann ein Ende, blieben bloß weitere schäbige kleine Affären übrig wie in den Kreisen des Birminghamer Country Club und eine selbst gemachte private Hölle, versüßt mit den neusten Elektrogeräten. Das hatte Hank nicht verdient.
Nein. Fürs Erste würde sie weiter dem steinigen Weg der Ehelosigkeit folgen. Sie schickte sich an, den Frieden ehrenvoll wiederherzustellen: "Es tut mir leid, ehrlich", sagte sie, und das stimmte.
"Schon gut", sagte Henry und gab ihr einen Klaps aufs Knie. "Aber manchmal könnte ich dir wirklich den Hals umdrehen."
"Ich weiß, ich bin gemein."
Henry sah sie an. "Du bist merkwürdig, Liebes. Du kannst dich nicht verstellen."
Sie sah ihn an. "Wovon redest du?"
"Na ja, im Allgemeinen zeigen die meisten Frauen ihren Männern, bevor sie sie am Haken haben, lächelnde liebenswürdige Gesichter. Sie verbergen ihre Gedanken. Du dagegen, wenn du gemein sein willst, dann bist du's auch."
"Ist es nicht fairer, wenn ein Mann sehen kann, auf was er sich einlässt?"
"Ja, aber ist dir nicht klar, dass du so nie einen Mann abkriegst?"
Sie verkniff sich das Offensichtliche und sagte: "Wie stelle ich es an, eine bezaubernde Frau zu werden?"
Henry erwärmte sich für das Thema. Mit seinen dreißig Jahren war er ein Ratgeber. Vielleicht, weil er Anwalt war. "Erstens", sagte er sachlich, "halt den Mund. Streite nicht mit einem Mann, erst recht nicht, wenn du weißt, dass du keine Chance gegen ihn hast. Lächele viel. Gib ihm das Gefühl, groß und wichtig zu sein. Sag ihm, wie wunderbar er ist, und verwöhne ihn."
Sie lächelte strahlend und sagte: "Hank, ich stimme dir in allem zu, was du gesagt hast. Du bist der scharfsinnigste Mensch, der mir seit Jahren begegnet ist, du bist eins fünfundneunzig groß, und darf ich dir eine Zigarette anzünden? Wie klingt das?"
"Furchtbar."
Sie waren wieder Freunde.
* Editorische Notiz: Der von Harper Lee, geboren 1926 in Monroeville/Alabama, verwendete Begriff "negro" wurde in diesem Roman originalgetreu mit "Neger" übersetzt, da es der üblichen Verwendung zum Zeitpunkt der Entstehung des Manuskripts entspricht, auch wenn der Begriff heute als abwertend gilt.