Neuer Roman: "Krematorium":Die lebende Abrissbirne

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Trinken, ficken, jagen, schlafen: Mit betonhartem Pragmatismus erzählt Rafael Chirbes in seinem Roman "Krematorium" von der Zerstörungswucht des Massentourismus.

Alex Rühle

Im Jahr 1958, den Ausdruck Massentourismus gab es da noch gar nicht, brachte Hans Magnus Enzensberger dessen zerstörerische Paradoxie schon in einem schönen Satz auf den Punkt: "Indem wir finden, was wir suchen, zerstören wir es." Da war es gerade mal einige Monate her, dass in Deutschland der erste Charter-Flug abgehoben hatte, Zielflughafen Malaga. Die Maschine brachte ein paar Dutzend Touristen aus München in das bettelarme, aber gerade deshalb so pittoresk-beschauliche Fischernest Torremolinos.

Endlich Urlaub: "Indem wir finden, was wir suchen, zerstören wir es." (Foto: Foto: afp)

Rafael Chirbes' neuer Roman spielt 50 Jahre später in einem dieser Orte, die wir gefunden haben, um sie restlos zu zerstören. Chirbes weiß, wovon er schreibt, er wurde 1949 geboren in einem Dorf bei Alicante und lebt heute in einem anderen Dorf bei Alicante, das Dorf in "Krematorium" heißt Misent, aber es könnte auch Torremolinos, Benidorm oder Malaga heißen. Seine eigentliche Hauptfigur ist Rubén Bertomeu, ein mächtiger Immobilienhai, der groß wurde durch den Tourismus.

Rafael Chirbes, Jahrgang 1949, schaut auf den Fotos, die es von ihm gibt, mit seinem grimmen Schnauzer und den Strickwesten über einem festen Bauch eher aus wie ein skeptischer knorriger Bauer denn wie ein Schriftsteller, und er hat schon oft vehement gegen die Totalzerstörung der spanischen Natur gewettert.

Nichts aber liegt ihm so fern, wie moralischer Hochmut, er richtet keine seiner Figuren, das erledigen die schon selber. Rubén Bertomeu wird einem in seiner Mischung aus bauernschlauer Lebenserfahrung und funkelnder Eloquenz streckenweise recht sympathisch. Ja, wenn Chirbes ihn in seinem früheren Leben als Kunstreisenden und Gourmet beschreibt, dann leiht er ihm Züge von sich selber: Chirbes hat viele Jahre lang Reisereportagen und Restaurantkritiken für die edle Wein- und Gastronomiezeitschrift Sobremesa verfasst und er legt seinem Helden Sätze und Theorien in den Mund, die er selbst schon in Interviews oder Essays geäußert hat.

Monströs

Und doch ist dieser Rubén eine der monströsesten Figuren der zeitgenössischen Literatur, ein Mensch, der regrediert ist auf die Grundfunktionen trinken, ficken, jagen, schlafen, ohne das als Verlust zu sehen, eine lebende Abrissbirne, die alles plattmacht, was sich ihr in den Weg stellt, dessen Pragmatismus grauer ist als der Beton seiner Rohbauten: "Du Juan, ein Liebhaber realistischer Literatur, der Honoré de Balzac so schätzt, warum kommst du nicht darauf, dass es hier wie bei Balzac ist, ganz genauso. Auch auf dem Ursprung dieses Familienvermögens liegt ein dunkler Schatten", sagt Rubén ganz am Schluss.

Balzac, den Rafael Chirbes bewundert, schrieb einmal, der Roman sei die "Privatgeschichte der Nationen". Das könnte über dem Gesamtwerk von Rafael Chirbes stehen, der mit seinen Romanen und Erzählungen eine bittertraurige "Comedie Humaine" geschrieben hat, indem er Spaniens Geschichte seit dem Bürgerkrieg in großen Tableaus und Familienchroniken erzählt. Zeichneten seine vorangehenden Romane und Erzählungsbände den historischen Hintergrund, vor dem seine eigene Generation groß wurde vom Bürgerkrieg über die Francozeit bis in die neunziger Jahre, beschreibt er nun in "Krematorium" das Scheitern seiner eigenen Generation.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, warum die Sonne nicht Lebensquell, sondern Strafe ist.

Im "Fall von Madrid" reichte ihm der eine Tag, an dem Franco starb, um Spaniens Übergang von der Diktatur zur konstitutionellen Monarchie zu verhandeln. "Alte Freunde" beschrieb ein Abendessen in einem noblen Madrider Restaurant, in dem sich einstige Weggefährten der Revolution treffen, über ihr Leben reden und innerlich überlegen, wann sie sich selbst abhanden kamen. Schon in diesem Buch tauchte ein alter Baumogul auf, der seinen Freunden vollkommen plausibel und in prächtigster Laune erklären konnte, warum er sich vom Revolutionär zum harten Geschäftsmann entwickelt hat.

Gekommen, um zu zerstören: im Urlaubs-Paradies. (Foto: Foto: ap)

Diesmal nun zeichnet er ein mächtiges, düsteres Bild seiner eigenen Generation, die geprägt wurde von den unruhigen Jahren und hochfliegenden Plänen der sechziger Jahre, die daran glaubten, den Kapitalismus überwinden zu können, die davon überzeugt waren, die Welt zum Guten verändern zu können, wenn nur erst Franco weg ist. Als sie dann, um mit Enzensberger zu sprechen, endlich fanden, was sie suchten, als sie die Möglichkeit hatten, ein freies Leben zu gestalten, zerstörten sie es.

Die Sonne ist Strafe

Die Technik des inneren Monologs hat Chirbes über die Jahre zu solcher Meisterschaft entwickelt, dass er mittlerweile auf alle äußere Handlung verzichten kann, ohne dass einem das beim Lesen überhaupt auffallen würde: Ein Vormittag nur wird erzählt, keine der Personen bewegt sich vom Fleck, fast als sei die Zeit geschmolzen, zerflossen in der Hitze der Sonne, die hier ein grellweißes Licht verstrahlt, "sie ist nicht Lebensquell, sondern Strafe", wie es einmal heißt.

Chirbes durchleuchtet sein Personal wie Kadaver unter dem weißen harten Licht dieser afrikanisch heißen Sonne. Rubén steckt im Stau fest, seine junge Frau Monica steht vor dem Badezimmerspiegel, taxiert die Haltbarkeit ihres Körpers und rechnet das Kind in ihrem Bauch in Vermögenswerte um. Der Schriftsteller Federico Brouard sitzt zu Hause im Halbdunkel seiner Erinnerungen. Sie alle bereiten sich auf die Trauerfeier am Mittag vor, die Verbrennung von Matias, Rubéns Bruder, der sich in einer Art ideologischem Rückzugsgefecht vom großsprecherischen Stalinisten zum Ökobauern gewandelt hatte.

Matias' Verbrennung wird freilich gar nicht mehr beschrieben, auch taucht das Wort Krematorium zuvor nicht auf. So werden durch den Titel die Bettenburg und unsere Zeit selbst zum Krematorium, in der alle Träume, alle Reste des zivilisatorischen Miteinander verdampfen. Keine Ethik hat überlebt, eine Welt ohne Götter, in der alles erlaubt ist, "Präadamismus ohne Schuldgefühl".

Anfangs wirkt es so, als gebe es geglückte Lebensentwürfe als Kontrapunkt zu Rubéns betonhartem Pragmatismus: Silvia arbeitet als Restauratorin, ihr Mann Juan lehrt als anerkannter Literaturwissenschaftler in Madrid, Matias züchtete Olivenbäume, und dann ist da Federico Brouard, der Schriftsteller und Kindheitsfreund.

Bitter

Das Buch ist deshalb so bitter, weil auch all diese Alternativentwürfe verbaut zu sein scheinen. Silvia und Juan verachten Rubén, haben sich aber farb- und konturlos in seinem Reichtum und einer kühlen Zweckehe eingerichtet. Federico ist ein abgewrackter rücksichtsloser Narziss, den die Larmoyanz zu Orgien der Selbstbezichtigung treibt, er suhlt sich geradezu in dem Gefühl, vergessen zu sein. Und er hat - wie alle anderen - von Rubéns Geld profitiert.

Juan, Rubéns Schwiegersohn, ein schmallippiger Literaturwissenschaftler, schreibt eine Biographie über Brouard und trauert um ihn, der einst so schöne Romane schrieb, in denen er so voller Empathie für seine Figuren war, der unter Franco im Gefängnis saß, ins Exil ging, sich abseits des Literaturbetriebs hielt und nun ein suchtkranker Alter ist, der seine Umwelt quält, ähnlich schäbig wie Rubens vertrocknete Mutter und "ihr säuerliches Nichtdasein", wie Dagmar Ploetz so elegant übersetzt - die Tatsache, dass Chirbes' Bücher nirgends so erfolgreich sind wie in Deutschland, verdankt sich sicher auch Ploetz' Fähigkeit, jedes seiner Bücher in wunderschön flüssiges Deutsch umzuschmelzen.

"Wir waren wie die Maulesel am Ziehbrunnen. Wir zogen, blind und stumm, versuchten so, zu überleben, und obwohl wir miteinander alles teilten, schien uns nur Egoismus zu treiben. Dieser Egoismus hieß Elend. Die Not ließ keinen Winkel für Gefühle." So räsonierte eine alte Frau in Chirbes' frühem Meisterwerk "Die schöne Schrift", in dem Chirbes erstmals ganz auf die erzählerische Kraft des inneren Monologs setzte und Geschichte von unten erzählte, über ihr Leben in äußerster Armut. "Krematorium" nun zeigt, dass 70 Jahre später dieser Egoismus ohne alles Elend genauso wuchert.

RAFAEL CHIRBES: Krematorium. Roman. Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz. Kunstmann Verlag, München 2008. 432 Seiten, 22 Euro.

© SZ vom 16.9.2008/rus - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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