Neue Taschenbücher:Vorhänge in die Vergangenheit

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Das Leben ist hart, für die Farmer in Mississippi und die Feldarbeiterinnen im Red River Valley. In einem Thriller wird die Schuldfrage neu verhandelt. Klassisch: Annette Kolbs Romane und antike Liebeslyrik.

Vorhänge in die Vergangenheit

Ihr Leben umspannt fast ein ganzes Jahrhundert. Annette Kolb - Vater Bayer, Mutter Pariserin - kam knapp ein Jahr vor der Reichsgründung in München zur Welt und starb dort am 3. Dezember 1967. Was die Daten zuerst nicht ahnen lassen: Die engagierte Pazifistin ist als "Tochter zweier Vaterländer" zeitlebens eine Heimatlose geblieben, lebte großenteils im Exil, in der Schweiz, in Frankreich, schließlich in New York. Drei mal mehr, mal weniger autobiografisch durchwirkte Romane hat sie geschrieben und wurde für die ersten beiden unter anderem noch von Hofmannsthal bewundert. Anlässlich ihres 50. Todestages sind sie wiederzuentdecken. Immer gehen darin "Vorhänge" in die Vergangenheit auf. "Das Exemplar" von 1913 erzählt aus dem "seltsamen" Leben Mariclées - eine Liebesgeschichte, melancholisch angehaucht: "Der Sinn für die ... Relativität der Dinge ging ihr nie ganz verloren." 1928 folgte "Daphne Herbst" über den Niedergang einer Familie wie der Monarchie. Schließlich "Die Schaukel", 1934, ein als heiteres Porträt ihrer Münchner Jugend verpackter Nachruf auf die Welt von gestern: "Wir wollen hier nichts erforschen, wir stellen nur fest."

Florian Welle

Der Schelm mit der Silberzange

Radek Knapp verfügt über diese Verbindung von zuversichtlichem Sarkasmus und liebevollem Humor, die in Deutschland rar ist und die deshalb das Lesen seiner Bücher so vergnüglich macht. Seine Spezialität sind junge Polen, die das Weltbild ihrer Mütter in Einklang zu bringen versuchen mit der Welt, die sie außerhalb der mütterlichen Küche empfängt. Ludwik Wiewurka ist aufgestiegen zum Heizungsableser. Mit einer kleinen silbernen Zange zieht er durch die Wohnungen der Wiener Vorstädte und lernt fürs Leben, zum Beispiel, dass die Leute in gefliesten Räumen mit dem Trinkgeld geizen. Er trifft auf Leguane, Kampfhunde und deren skurrile Halter, einmal sogar auf einen Esel. Der Mann, der alle Berge der Welt besteigt und jeweils ein handliches Stück vom Gipfel mitnimmt, schenkt ihm ein Stück aus der Hohen Tatra, damit es ihm besser gehe. Bisher habe er so noch jedes Problem gelöst. "Ein wenig Vogelperspektive kann nicht schaden." Und tatsächlich: Der Brocken vom Gipfel wird zum Passstück einer großen Liebe - mit einer polnischen Krankenschwester - und zu Ludwiks Stein des Abstoßes von seiner Mutter.

Rudolf von Bitter

Die Frage der Schuld - ein Thriller-Essay aus Japan

Kazuaki Takano: 13 Stufen. Roman. Aus dem Japanischen von Sabine Mangold. Penguin Verlag, München 2017. 392 Seiten. 10 Euro. (Foto: N/A)

Was heißt es, sich schuldig zu machen? Welche gesellschaftlichen Maßstäbe weisen einem Verbrecher die Kategorien schuldig oder unschuldig zu? Und hat Schuld wirklich einen Wert, der sich in Gefängnisjahren bemessen lässt oder gar mit dem Urteil der Todesstrafe? Der junge Jun'ichi hatte einige Jahre Zeit, über solche Fragen nachzudenken. Ein eigentlich harmloses Gerangel endete mit dem Tod eines Mannes, Jun'ichi hatte ihn weggestoßen, aber wollte er ihn gleich töten? Das Gericht urteilte hart, denn schon als Jugendlicher war der Angeklagte aufgefallen, als er mit seiner Freundin durchbrannte. Nach Jahren im Gefängnis auf Bewährung entlassen, die eigene, wegen ihm hochverschuldete Familie im Rücken, muss Jun'ichi nun seinen Weg zurück in die Gesellschaft finden. Kazuaki Takanos "13 Stufen" erzählt so eigentlich eine umgekehrte Kriminalgeschichte von einem, der nicht als Krimineller aus der Gesellschaft ausbricht, sondern der in diese zurückkehren möchte. So geht es in den Ermittlungen, in die Jun'ichi verwickelt wird, auch nicht darum, die Schuld eines Mörders zu beweisen, sondern die Unschuld: Der mit dem Motorrad verunglückte Ryo Kihara wurde ganz in der Nähe des Hauses gefunden, in dem kurz zuvor ein Ehepaar grausam ermordet worden war. Kihara trug die Geldbörse des Opfers bei sich, aber kann er wirklich der Mörder gewesen sein? Er selbst kann sich an nichts erinnern. Trotzdem soll er hingerichtet werden. Jun'ichi und der Anwaltskanzlei, für die er arbeitet, läuft die Zeit weg. Oder ist das alles vielleicht nur ein großer Test für den auf Bewährung Freigekommenen? "Schließlich geht es doch darum, was schlimmer wäre - illegalerweise in ein verfallenes Haus einzudringen oder einen Unschuldigen hinrichten zu lassen."

"13 Stufen", der 2001 erschienene Debütroman des Drehbuch- und Bestsellerautors Kazuaki Takano, ist ein glasklar konstruierter und argumentierender Thriller, essayistisch ohne zu belehren und nebenbei die Konventionen der Kriminalliteratur hinterfragend.

Nicolas Freund

Schicksale im Schlamm

Den eigenen Vater ins Grab eines Schwarzen stecken? "Das wäre für ihn die größte Strafe." Aber es muss sein. Nur notdürftig beerdigen Henry und Jamie McAllan ihren "Pappy". Das nächste Unwetter droht die Grube wieder volllaufen zu lassen. Wie der despotische alte Farmer umkam, wird erst im Rückblick klar, doch das Bild der beiden im Morast versinkenden Männer markiert ihr begrenztes Universum. "Mudbound" nennen sie ihre Farm, im Mississippi-Delta der Vierzigerjahre, ein Schlammloch. In dem gleichnamigen Debütroman lässt Hillary Jordan die weißen Farmer und ihre afroamerikanischen Pächter, die Jackson-Familie, abwechselnd vom Leben im Schlick erzählen. Zwei Familiengeschichten, die sich ähneln, in der gemeinsamen Armut, und doch völlig entgegengesetzt sind. Die Rassentrennung ist unumstößliche Naturordnung wie der Schlamm, er verlangsamt das Leben bis zur Unerträglichkeit und entlarvt so dessen Unausweichlichkeit. Sehenden Auges flüchten die Kriegsheimkehrer der Familien, Jamie und Ronsel, sich in eine verzweifelte Freundschaft, die scheitern muss. Dass die beiden sich verändert haben - ein Affront.

Sofia Glasl

Auf den Feldern des Red River Valley

Die Päckchen sind verkrumpelt, die Zigaretten drin krumm, am liebsten aber raucht Cash eh alte Kippen. Sie ist Landarbeiterin im Red River Valley, zwischen Norddakota und Minnesota, sie fährt Traktoren und Laster. Renee Blackbear ist ihr richtiger Name, White Earth ist die Reservation, aus der sie kommt. Sie lehnt an ihrem Ranchero Pick-up und beobachtet die drei Männer auf dem Feld, die um den Toten stehen. Einer der Männer ist Sheriff Wheaton, der hat Cash behütet, als sie von Pflegefamilie zu Pflegefamilie gereicht wurde, eine billige Arbeitskraft, für die es Geld gab vom Staat. Jetzt will sie Wheaton helfen, bei dem Toten. Marcie Rendon gehört zum Stamm der Anishinabe White Earth Nation, sie erzählt Cashs Leben mit rauer Nüchternheit. Den Tag über arbeiten, abends schnell die Klamotten wechseln und ins Casbah, ein paar Dollars zusätzlich beim Poolbillard, mit dem Partner Jim, später mit Jim ins Bett, dann schickt sie ihn zurück zu Frau und Kind. Sie lehnt am Ranchero und zündet die Zigarette an, mit der linken Hand, das hat ihr ein Vietnamheimkehrer gezeigt: "Das brauchst du im Dschungel, damit du die andere Hand am Gewehr lassen kannst."

Fritz Göttler

Ganz schön verdreht: antike Liebeslyrik

Vivamus atque amemus! Antike Liebesgedichte Griechisch/Lateinisch/Deutsch. Hrsg. u. übersetzt von Niklas Holzberg. Reclam, Stuttgart 2017. 128 S., 7 Euro. (Foto: N/A)

"Tempora mutantur, nos et mutamur in illis", hieß es in der Lateinstunde: "Die Zeiten ändern sich, und wir uns in ihnen." Im 150. Jubiläumsjahr seiner altehrwürdigen "Universal-Bibliothek" folgt dieser Devise der Reclam Verlag mit einer Sammlung antiker erotischer Dichtungen. Noch drei Jahrzehnte zuvor war man vom Vertrag über eine Erotica-Anthologie mit Roger Willemsen zurückgetreten. Was dieser seinen Auftraggebern vorgelegt hatte und was dann anderswo erscheinen musste, war eine kluge Komposition erotischer Desiderata. Brachte schon auf den ersten Seiten eine Frau, indem sie beim Sex die sonst übliche Rolle des Mannes einnahm, die Stuttgarter Traditionsbewahrer zum Erröten, so hat der Verlag heute alle Scheu abgelegt und präsentiert uns einen klassisch-antiken Schatz wollüstiger Rollenspiele und frivoler Rollenwechsel, die mit den Geschlechterverhältnissen die ganze Welt auf den Kopf stellen. Schließlich bedeutet das Lateinerwort "perversio" nichts anderes als "Verdrehung", weshalb die antiken Autoren um keine Worte verlegen waren, die ewige Sache mit dem Sex in ihrer unermesslichen Fülle und Vielfalt auszumalen.

VOLKER BREIDECKER

© SZ vom 12.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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