Neue Taschenbücher:In Roulettenburg mit einer wilden Tatarenseele

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Dostojewskijs "Spieler" in der Übersetzung von Alexander Nitzberg und noch mehr im Paperback: Briefe von Thomas Mann an einen Jugendfreund, Romane von Michael Chabon und Katharina Adler.

Fjodor Dostojewskij: Der Spieler. Aus dem Russischen und mit einem Nachwort von Alexander Nitzberg. dtv, München 2020. 229 Seiten, 10,90 Euro. (Foto: N/A)

In Roulettenburg mit einer wilden Tatarenseele

Das Rad dreht sich und die Kugel rollt, trügerisch schwebend ... Das Glück des Spielers, ein magischer Moment, Perpetuum mobile, das nie zur Ruhe kommen mag. Alles ist möglich, gerade auch das Unmögliche - dass die Zero kommen wird und der unfassbare Gewinn. Aus solchen Momenten ist "Der Spieler" gestückelt, von Fjodor Dostojewskij, Spieler und Autor. Ein Buch im Rausch des Irrealis.

Die Übersetzung von Alexander Nitzberg nimmt diese Bewegung auf, respektlos und erpicht, "die geschilderten Extreme nicht zu domestizieren, sondern sie im Gegenteil zuzuspitzen, um damit dem Geist des russischen Originals, das partout keine schöne Literatur sein will, treu zu bleiben". Dostojewskij kann auch Klamotte, und im letzten Teil, wenn der junge Ich-Erzähler Alexej Iwanowitsch nach Paris geht mit Madame Blanche und diese dort lustvoll seine beim Roulette erspielten Hunderttausende verprassen lässt, gibt es schnoddriges Radebrechen ohne Ende.

Recht postmodern aufs Spiel gesetzt wird hier die bürgerliche Ökonomie - das Gelderwerben, -zählen, -sparen, -vermehren, -investieren. Der junge Spieler will dagegen nur ausgeben, verschwenden, er hasst ehrliche Menschen, all diese braven Familienväter, er ist mit seiner wilden Tatarenseele ein 68er des 19. Jahrhunderts. "Jedenfalls ich für meinen Teil würde viel lieber mit einer kirgisischen Jurte durch die Welt ziehn als den deutschen Mammon anbeten."

Dostojewski hat den Roman - mitten in der Arbeit am Opus magnum "Schuld und Sühne" - in einem Monat geschrieben, Oktober 1866, um einen fiesen Vertrag mit seinem Verleger zu erfüllen, diktierte ihn der gewandten Anna Snitkina, die bald seine Frau werden wird. Atemlos hastet und haspelt Alexej durch den Roman, und für ein paar Tage hat er eine tolle Mitstreiterin an seiner Seite, la baboulinka, die Großmutter, auf deren Tod und Vermögen alle spekulieren. Auch sie verfällt im Kurhaus dem Rausch des Roulette, der Magie der Zero. Tomb ee en enfance, wird gespottet, die Alte sei wohl infantil geworden. Fritz Göttler

Von Orchideen besessen

Verena Stauffer: Orchis. Roman. btb, München 2020. 256 Seiten, 11 Euro. (Foto: N/A)

Der Stern von Madagaskar ist legendär und real zugleich. Für den Schweizer Botaniker Anselm ist die Orchideenart eine Obsession. Mitte des 19. Jahrhunderts macht er sich nach Ostafrika auf, um sie zu entdecken. Ein Sog aus betörenden Gerüchen, Geschmäckern, Farben und Klängen benebelt ihn auf der Insel. Seine wissenschaftliche Methodik verschwimmt zusehends mit schwindelerregenden Wahrnehmungszuständen. Nachdem er die Königin der Blumen gefunden hat, glaubt er, ihm wachse eine Orchidee aus der Schulter. Der Österreicherin Verena Stauffer gelingt in ihrem 2018 erstmalig erschienenen Debütroman "Orchis" ein sprachlich opulenter Hybrid aus wissenschaftshistorischem Abenteuer, Psychogramm und Halluzination, der Anselms psychedelische Bewusstseinszustände als überbordenden sinnlichen Rausch am Rande zum Wahnsinn fasst. Ein ernüchterndes und doch notwendiges Gegengewicht sind Stauffers Beschreibungen der damals noch jungen Psychiatrie, die mit heute abstrus wirkenden Methoden wie Schlafentzug und Sturzbädern hantierte: Anselm muss ins Sanatorium und sein botanisches Genie kommt ins Wanken. Sofia Glasl

Eine Art Familiengeschichte

Michael Chabon: Moonglow. Roman. Aus dem Englischen von Andrea Fischer. Kiwi, Köln 2020. 496 Seiten, 14 Euro. (Foto: N/A)

Michael Chabon schlägt dem populären Authentizitätsphantasma ein Schnippchen. Im mitreißenden Roman "Moonglow" fächert ein Schriftsteller namens Michael Chabon die Geschichte seiner jüdischen Familie auf. Nach Jahrzehnten des Schweigens offenbart ihm der Großvater in seinen letzten Tagen plötzlich seine unglaubliche Lebensgeschichte. Die Erzählung entfaltet sich in Schleifen, springt zwischen Zeiten und Orten: Wie der Großvater etwa als Soldat Wernher von Braun in Deutschland jagte oder nach einer Entlassung fast seinen Chef erdrosselte. Entscheidendes Motiv ist dabei die Faszination für die Raumfahrt, eine Mondstation in Miniaturformat wird ihm zum utopischen Ventil. Auch die psychische Labilität der den Holocaust überlebenden Großmutter prägt das Familienleben nachhaltig. Chabon zeigt eindringlich, wie 'die' Geschichte aus den persönlichen Geschichten heraus in die Gegenwart scheint. Er erschafft ein Kabinett voll Miniaturen, in denen sich Reales und Fiktionales durchdringen und aneinander wachsen. So entsteht angesichts der Kontingenz des Lebens ein meisterhaftes Panorama des 20. Jahrhunderts. Volker Bernhard

Nur Dichter, nur Stimmungsmensch

Thomas Mann: Briefe an Otto Grautoff 1894 – 1901 und Ida Boy-Ed 1903 – 1928. Fischer Verlag, Frankfurt/ M. 2020. 306 Seiten, 22 Euro. (Foto: N/A)

Man kommt Thomas Mann in den Briefen, die er dem Jugendfreund Otto Grautoff und der "mütterlichen Freundin" Ida Boy-Ed geschrieben hat, persönlich nahe. Zusammen umspannen sie mehr als 30 Jahre, in denen sich Mann als Mensch und Schriftsteller entwickelt. Mit Otto "gippert" er, schreibt in einem Duktus, den die beiden nur für sich ersonnen haben, noch etwas unreif, kokett auch, sich selbst nennt er "nur Künstler, nur Dichter, nur Stimmungsmensch, intellectuell schwach, ein sozialer Nichtsnutz". Die Gesundheit, die Zahnnerven sind oft Thema. Als die "Buddenbrooks" erscheinen, rezensiert Grautoff das Buch des Freundes und hält sich dabei penibel an die Ratschläge, die ihm dieser zuvor gegeben hat, "ein wenig" Tadel inklusive. Grautoff wird später ein berühmter Kunsthistoriker. Ida Boy-Ed ist hanseatisches Urgestein und eine moderne Frau, die gegen alle Widerstände als Schriftstellerin reüssiert. Die "liebe gnädige Frau" sagt Mann die Meinung. Beim "Zauberberg" wird's ihm einmal zu viel: "Ich balle immer die Faust (...), wenn Sie von der Kompositionslosigkeit des Buches sprechen." Florian Welle

Requiem der Verräter

Ramón José Sender: Requiem für einen spanischen Landmann. A.d. Span. v. Thomas Brovot. M. e. Nachw. v. E. Hackl. Diogenes Verlag, Zürich 2020. 120 S., 10 Euro. (Foto: N/A)

Es beginnt wie eine Dorfgeschichte, dann wird es hoch moralisch und tragisch. Sender lässt den Pfarrer von einem Dorfjungen erzählen, der als Messdiener ein Gefühl für soziale Gerechtigkeit entwickelt hatte und während des Sturzes der spanischen Monarchie und Ausrufung der Republik als Bürgermeister die Enteignung des Herzogs durchsetzt, um die Armut im Dorf zu lindern. Mit der Revolution Francos besetzen Mörderbanden das Dorf, terrorisieren die Bürger, der Priester steht plötzlich zwischen den alten Großgrundbesitzern und den Landarbeitern und macht sich diese Funktion für seine Eitelkeit zunutze. Dann lässt er den früheren Messdiener in eine Falle tappen. Jetzt soll sein Requiem gehalten werden, bezahlt von den Mördern, die als einzige in die Kirche kommen. Der Geistliche rekonstruiert hier seine Schuld, ohne sie sich eingestehen zu können. Ein innerer Konflikt, mit dessen Ausbreitung Sender die Leser in ein menschliches Dilemma hineinzieht: Je genauer er berichtet, desto deutlicher wird die eigene Verstrickung. Im Nachwort erzählt Erich Hackl, was für eine komplexe, zum Teil unverständliche Person Sender gewesen sein muss. Rudolf von Bitter

Freuds berühmte Patientin

Katharina Adler: Ida. Roman. Rowohlt Verlag, Hamburg 2019. 512 Seiten, 12 Euro. (Foto: N/A)

Er saß ihr im Nacken, während sie liegend, sprechend ihr Inneres darbieten musste. Ida Adlers Erzählungen auf dem Diwan in der Wiener Berggasse gingen als "Fall Dora" in Sigmund Freuds "Bruchstück einer Hysterie-Analyse" ein - und damit in die Geschichte der Psychoanalyse. Die Urenkelin der berühmten Patientin hat der männlichen Deutungsmacht einen Roman entgegengesetzt, in dem sie jener Frau erstmals eine Stimme verleiht; einer Frau, die ausgerechnet an Stimmlosigkeit litt. In Katharina Adlers Debütroman "Ida" lernt man sie als intelligent und eigensinnig kennen; eine junge Frau mit vielen Möglichkeiten, wäre sie nicht in einer patriarchalen Gesellschaft zum Sticken statt Studieren genötigt worden; genötigt noch zu einigem mehr. Ein Familien- und Gesellschaftspanorama auf mehreren Zeitebenen, das erzählt Katharina Adler detailreich aus Idas Perspektive vom Wien der Jahrhundertwende bis zum Exil in den USA. Auch wenn die Autorin nah dran ist an ihrer Figur, gelingt es ihr dabei, die Ahnin nicht zu idealisieren. Im Gegenteil wirkt insbesondere die ältere Ida recht herb und unleidlich; manchmal wird ihr dann die Kehle eng. Antje Weber

© SZ vom 11.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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